Mittwoch, Dezember 21, 2011

Zwei Briefumschläge und ein probabilistisches Wunder

Zur Abwechslung kommt heute einmal wieder etwas Mathematisches. Rom Pinchasi hat bei uns zum Abschied heute eine Vorlesung über mathematische Puzzles gehalten, und ein besonders Schönes und Überraschendes möchte ich hier kurz vorstellen.

Wir sind Teilnehmer in einer Quiz-Show. Der Quiz-Master zeigt zwei verschlossene Briefumschläge, A und B. In beiden steckt jeweils ein Papier mit einer Zahl darauf. Wir wissen, dass die beiden Zahlen verschieden sind, aber darüber hinaus haben haben wir keinerlei weitere Informationen. Nun müssen wir ansagen, in welchem Briefumschlag die größere Zahl steckt. Wenn unsere Ansage richtig war, kommen wir in die nächste Runde des Wettbewerbs, andernfalls scheiden wir aus.

Was ist das Beste, das wir in dieser Situation können?

Die naheliegende Strategie ist, zufällig einen der beiden Briefumschläge auszuwählen. Dann kommen wir mit Wahrscheinlichkeit 1/2 in die nächste Runde.

Gibt es eine bessere Strategie? Die Intuition sagt Nein. Aber können wir das auch beweisen?

Für einen richtigen Beweis muss das Szenario richtig formalisiert werden. Vor allem müssen wir uns überlegen, was eigentlich zu beweisen ist. Es könnte zum Beispiel sein, dass immer der Umschlag A die größere Zahl enthält. Dann gibt es natürlich eine bessere Strategie. Dies wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass wir nicht wissen, dass der Umschlag A immer die richtige Antwort ist. Aussagen über Wissen sind notorisch schwer handzuhaben.

Die Lösung besteht darin, den Quiz-Master als Gegenspieler zu verstehen. Wir wollen Folgendes beweisen: Der Quiz-Master kann sich so verhalten, dass wir höchstens mit Wahrscheinlichkeit 1/2 in die nächste Runde kommen können, egal welche Strategie wir verwenden. Also: es existiert eine Strategie für den Quiz-Master, so dass für alle möglichen Strategien, die wir verwenden können, gilt: wir kommen höchstens mit Wahrscheinlichkeit 1/2 weiter.

Und das ist ganz einfach. Der Quiz-Master schreibt die beiden Zahlen auf, und wählt dann zufällig aus, welche Zahl er in welchen Umschlag steckt. Das macht er im Geheimen, so dass unsere Ansage, in welchem Briefumschlag die höhere Zahl steckt, stochastisch unabhängig von der zufälligen Wahl des Quiz-Masters ist.

Um unsere Erfolgswahrscheinlichkeit zu analysieren, sollten wir zuerst ein paar Wahrscheinlichkeitsereignisse definieren. Sei QA das Ereignis, dass der Quiz-Master die höhere Zahl in den Umschlag A steckt, und QB das entsprechende Ereignis für den Umschlag B. Sei WA das Ereignis, dass wir ansagen, die höhere Zahl stecke im Umschlag A, und WB entsprechend für Umschlag B. Aus dem Verhalten des Quiz-Master folgt Pr[QA] = Pr[QB] = 1/2. Die Wahrscheinlichkeiten für WA und WB hängen dagegen davon ab, welche Strategie wir verwenden, aber darauf will ich mich in dem Beweis nicht festlegen (siehe oben!).

Die stochastische Unabhängigkeit bedeutet, dass Pr[QA und WA] = Pr[QA] * Pr[WA] gilt, und so weiter. Das kann man im Beweis gewinnbringend verwenden. Was ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir weiterkommen? Nun, entweder wir sagen Umschlag A an (WA) und das ist tatsächlich richtig (QA) oder wir sagen Umschlag B an (WB) und das ist richtig (QB). Die Wahrscheinlichkeit ist also:

Pr[QA und WA] + Pr[QB und WB] = Pr[QA] * Pr[WA] + Pr[QB] * Pr[WB] = Pr[WA] / 2 + Pr[WB] / 2 = (Pr[WA] + Pr[WB])/2 = 1/2

Mit anderen Worten: wenn der Quiz-Master sich wie beschrieben verhält, dann kommen wir immer mit Wahrscheinlichkeit 1/2 weiter, egal was wir tun! Und das ist der ganze Beweis.


Variationen

Bis jetzt ist nichts Überraschendes passiert. Deswegen wollen wir die Quiz-Show nun ein wenig abändern, und zwar auf zwei leicht verschiedene Weisen:
  1. Bevor wir uns festlegen, öffnet der Quiz-Master einen Umschlag seiner Wahl und zeigt uns, welche Zahl darin enthalten ist.

  2. Bevor wir uns festlegen, dürfen wir einen Umschlag unserer Wahl öffnen und uns ansehen, welche Zahl darin enthalten ist.
Was ist in diesen beiden Fällen die beste Strategie für uns? Da ich angekündigt habe, dass etwas Überraschendes passiert, ist klar: in mindestens einem der Fälle gibt es eine Strategie, bei der wir in jedem Fall mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 1/2 in die nächste Runde kommen.

Aber wie genau soll das gehen? Ich lasse den geneigten Leser darüber nun selbst ein wenig nachdenken, und werde die Lösung in ein paar Tagen hier aufschreiben.

Dienstag, Dezember 20, 2011

Die blinden Flecken des ifo-Instituts

Der Oeffinger Freidenker verlinkt heute auf ein Papier, das aus dem Dunstkreis der ifo-Instituts kommt, und kommentiert dabei gleichzeitig wahrscheinlich den meisten Lesern aus dem Herzen.

Aber wie ist es mit den Inhalten des Papiers? Es dürfte für den Leser schon einmal interessant sein, zu wissen, dass das ifo-Institut die Heimat des allseits beliebten Prof. Unsinn ist. Dementsprechend wenig überraschend werden in dem Papier einige Dinge geflissentlich ignoriert. Das ist typisch für die Herkunft des Papier, aber leider müssen diese Dinge doch immer wieder dokumentiert werden. Hier sind die drei Wichtigsten:

  1. Die Rolle des deutschen Exportwahns wird unterschlagen. Tatsächlich begann die im Papier erwähnte "Kapitalflucht" erst in so richtig überwältigendem Ausmaß, nachdem Deutschland dank Lohn-Dumping zum Netto-Exporteur wurde. Das ist aber auch wenig überraschend: der Leistungsbilanz müssen zwangsläufig entsprechende Kapitalflüsse gegenüberstehen.

    Will man die "Kapitalflucht" beenden, so gibt es dazu also ein ganz einfaches Mittel: beendet den Netto-Exportwahn. Eine solche Lösungsmöglichkeit wird in dem Papier aber nicht erwähnt.

  2. Fast schon ein Klischee ist der Hinweis auf die Hyperinflation der Weimarer Republik, ohne auf die eigentlichen Ursachen einzugehen. Zu Letzeren gibt es ein gutes Papier von Cullen Roche.

    Die Kurzfassung ist: übertrieben hohe Kriegsschulden kombiniert mit einem Kollaps der produktiven Kapazität in Folge der Ruhrbesetzung haben die deutsche Situation untragbar gemacht. Die Hyperinflation war dann das kleinere Übel, da man den Siegermächten auf diese Weise klar machen konnte, dass es so nicht weitergehen kann.

  3. Es wird auf Konkurse und die niedrige Verschuldung der Bundesstaaten der USA eingegangen. Das ist richtig. Aber wer auf die USA hinweist, muss auch darauf hinweisen, dass es dort eine zentrale Bundesregierung gibt, deren Haushalt mehr als 20% des BIP ausmacht, und deren Schulden bekanntermaßen auch nicht gerade gering sind.

    In der Tat erfordert eine solide Korrektur der Eurozone, dass eine zentrale Regierung mit einem zentralen Haushalt für die gesamte Eurozone geschaffen wird. Der schnellste und demokratischste Weg dorthin wäre, dem Europäischen Parlament die Befugnisse des monetären Souveräns zu geben. Ich habe über diese Option bereits früher geschrieben, z.B. hier.

Auch von der merkwürdigen Fixierung auf die Target-Salden hat sich das ifo-Institut anscheinend immer noch nicht befreien können. Es ist richtig, dass das ESZB nicht vollständig konsolidiert ist und deshalb die nationalen Zentralbanken als Teil des Systems weiter existieren. Genauso richtig ist, dass die Bundesbank innerhalb dieses Systems gigantische Forderungen an andere nationale Zentralbanken angesammelt hat. Das sind Folgen des bereits erwähnten und von mir, nicht aber von den Autoren des Papiers, kritisierten deutschen Netto-Exportwahns. Diese Forderungen würden beim Zerfall des Eurosystems vermutlich wertlos werden.

Falsch ist aber, dass dies zwangsläufig Kosten für "den Steuerzahler" zur Folge hätte. Es handelt sich schließlich um Forderungen. Niemand in Deutschland hat sich in diesem Kontext für etwas verpflichtet, das er nach einem Zerfall des Eurosystems nicht erfüllen könnte. Sicher, die Bilanz der Bundesbank sähe etwas merkwürdig aus. Aber es ist nur eine Bilanz: im Zuge der Gesetzgebung für eine Wiedereinführen der Mark könnte dieses "Problem" mit einem Federstrich gelöst werden.

Für mehr habe ich im Moment keine Zeit. Nur eine abschließende Bemerkung sei mir noch gestattet. Das Papier arbeitet mit einem typischen Trick der Meinungsmache: die meisten Aussagen die in ihm gemacht werden sind durchaus korrekt. Die politische Lüge liegt in den Dingen, die verschwiegen werden. Genau das macht das ifo-Institut so unsympathisch: seine politisch orientierten Veröffentlichungen sind durchtränkt von intellektueller Unehrlichkeit und Manipulation.

Der Vergleich mit den USA ist das Paradebeispiel dafür. Es kann keiner behaupten, dass er die zentrale Bundesregierung dort bei seinen Überlegungen einfach übersehen hat. Warum wird sie in dem Papier trotzdem nicht einmal erwähnt? Die Antwort ist, für mich, ganz einfach: weil den Autoren klar ist, dass eine Erwähnung ein politisches Umdenken erfordern bzw. auslösen würde, und das will man um jeden Preis vermeiden.

Montag, Dezember 19, 2011

The AI Challenge - a look back

For the last four weeks, I have worked on my submission for the Google AI Challenge. The deadline has passed this morning, so it is time to relax while the official final tournament is running on the contest servers. Until yesterday, my submission was ranked quite consistently in the top 20. Then I uploaded my final version (which resets the skill) which was quite consistently better on the unofficial TCP servers, but given that everybody else was doing last minute tweaks, too, it's far too early to call.

I enjoyed the spirit of this contest immensely, and now I would like to document some of my thoughts on how my submission works. I have uploaded the source code to Github (https://github.com/nhaehnle/aiant) so you can peruse it while following this blog entry if you wish.

High level structure

The bot is divided into a number of modules that select high-level goals for the ants it controls. This is done in a very straightforward way. Every ant initially has no direction to go in (the field Ant::assigneddirection is initialized to false each turn). The high-level modules then simply assign directions to ants that do not have one yet, and the order in which the modules are called reflects the relative importance I assign to the various tasks. For example, the HillDefense module will only assign ants that have not been assigned by the FoodSeeker.

There are two modules that fall outside of this basic structure: The Zoc ("zone of control") module does not steer any ants. Instead, it keeps track of how fast my ants vs. enemy ants can reach each square of the map. And the Tactical module overrides the previous decisions if necessary for ants that may be involved in combat.

The strategy modules

The following strategy modules are used by the bot, assigning jobs to ants in the given order:
  1. FoodSeeker: Getting enough food is probably the most important problem of the game, and so this module comes first. It greedily sends the closest ant to each item of food that is visible, using several breadth-first-searches.
  2. HillDefense: When one of the bot's hills can be reached in few turns by the enemy, this module ensures that a few ants (adjusted based on the number of enemy ants in sight) stick close to the hill.

    An important tweak of this code is that it does not send ants back to the hill indiscriminately. Instead, it only recalls an ant if it is too far away from the hill relative to the closest enemy. This way, ants are not needlessly wasted on patrol duty. It would probably be a good idea to treat multi-hill maps specially, but this is not done.
  3. OpportunisticAttack: This rather stupid piece of code ensures that the ants move more aggressively towards enemy hills. After all, that is the only way to win the game.
  4. Scout: This module assigns a tiny number of ants to re-explore squares that have not been seen in a long time.

    This is needed because the rest of the code uses the Zoc module to understand that an enemy can never come out of a cul-de-sac once it's been secured. So without some re-scouting logic, the bot would simply ignore the food in those secured locations!
  5. Diffusion: This is a very ad-hoc heuristic to spread out my ants better than they would otherwise. There would probably have been some potential for improvement in this part of the code.
  6. Zoc-based movement: any ant that has not been assigned a move up to this point will simply use the Zoc data to move closer to the enemy. This is done in Bot::makeMoves rather than in a separate module.
On a "historical" note, it may be interesting to know that I started out with just the FoodSeeker and the Zoc-based movement. Together with Tactical, this was enough to get into the top 100 a bit more than two weeks before the deadline.

The tactical logic

The idea behind the TacticalSm module is simple:
  1. Carve out small Submaps that contain all the ants that could potentially be involved in combat on the next turn.
  2. Generate potential moves for both my bot and the enemy. The combination of Submap and associated PlayerMoves is called a Theater.
  3. Evaluate those moves using some simple scoring function.
  4. Try to find better moves for both parties.
  5. Repeat until time runs out.
  6. Pick a move using one of two strategies.
Note that my tactical code doesn't understand situations involving enemy ants of more than one enemy player. This is certainly a limitation, but it's hard to tell how bad it really is.

Most of the tactical code is about engineering, and careful consideration of the scoring function. For example, during a major code reorganization halfway through the competition, the tactical code stopped considering proximity to food in the scoring function. That hurt the performance of my bot quite significantly, and my bot's skill recovered when I turned that part of the scoring function back on.

There are really only two clever parts. One is to use a scoring function that, by default, assigns a higher value to the own ants, to avoid costly trades of ants, but to turn on aggressive mode if the own ants overpower the enemy. This switch is done randomly based on the ratio of ants, where the probability to turn on aggressive mode is conceptually a logistic function in the log of the ants ratio.

The second clever part is to use a small bit of rock-paper-scissors logic in the final move selection. My first method to select a move is a simple min-max (or rather, max-min): pick the move that maximizes the minimum scoring value I could possibly get, given all enemy moves under consideration. Since this is a rather conservative choice of moves, especially given that there is absolutely no look-ahead, I implemented max-average as a second strategy: choose the move that maximizes the average scoring value, where the average is over all enemy moves, weighted by their max-min value.

Of course, this strategy may sometimes be too aggressive. What's more, the best strategy may depend on the opponent. Therefore, my bot uses a variant of the randomized weighted majority algorithm to pick the move-selection strategy. At the beginning of each turn, my bot determines what the best strategy would have been in hindsight to update the weights of the strategy. One important tweak is that the weights depend both on which enemy player my bot is facing, and on the number of ants in play.

Discarded experiments

I experimented with adding more move selection strategies, but the results were not convincing at all, perhaps because it takes longer for the bot to learn which strategy to choose, so I scrapped that again.

I also implemented map symmetry detection to guess unseen enemy hills and a corresponding module for a coordinated offense against enemy hills. The code is still there, but I have disabled it. The simple implementation I have is far too aggressive and wasteful, and I didn't feel like trying to tweak it to a point where it becomes useful.

I also did some experiments with an alternative move generation method for my tactical system, as well as a very simple implementation of the sampling-based combat system described by a1k0n on the challenge forums. This simple method performed worse than my tactical code; I have some ideas for improving it (just like a1k0n obviously did), but ultimately did not have the time to try them out. Those experiments can still be found in the Git history if you feel like digging through it.

I tried some automatic tuning of parameters using meta-heuristics (see the test/tune.py script), but somehow that didn't yield very convincing results either.

Code quality?

I have to admit that the code is not very well documented, and some of it is rather hackish. I hope you'll forgive me for this type of one-off code.

There is one thing that I did consistently that I would never do in another type of project, and that is keeping STL containers around as long as possible to avoid re-allocation. I intensively rely on the fact that std::vector::clear does not free the allocated memory, at least in the default implementation of g++. By keeping those vectors around, I want to avoid unpleasant surprises in the performance of memory management.

I don't think this is strictly necessary, given that the bot actually uses surprisingly little memory, but it didn't hurt in this case. It reduces the maintainability of the code, which is why I wouldn't do it on other projects, but maintainability was obviously never a goal for a competition like this one.

A neat randomization trick

"When in doubt, throw a coin" is perhaps the most important lesson that Theoretical Compute Science teaches. When there are several directions to go in that all score the same, which one should you choose? The best approach is to choose randomly.

To facilitate this, I pre-generated all 24 permutations of the 4 directions, and all 120 permutation of the 5 possible moves of an ant, and I randomly choose one of those permutation whenever I have a loop through directions to choose from.

Sometimes, however, I have a loop through variable-sized vectors, for example, when choosing ants for an offensive move in the tactical logic. I would like to have a random permutation for those cases as well, and of course there are algorithms to generate them. But they take time, and the benefit of a perfectly uniform distribution is not that clear.

So here's a little trick I use to permute variable-sized vector of size N. I pick a random prime p out of a decently sized pre-generated list of large primes (larger than any N the code is ever going to see), as well as a random offset ofs and loop through the numbers 0..N-1. But instead of using these numbers i as an index, I use (p*i + ofs) % N as index. Since p is prime different from N, it is invertible modulo N, and therefore the map i -> p*i + ofs is a bijection, aka a permutation. Of course, this is far from a uniformly distributed permutation: there are N! potential permutations, out of which this method can generate at most N * φ(N). But hey: it's good enough for what I need.

Freitag, November 18, 2011

Was ist und was sein soll

Die Funken des arabischen Frühlings und der Indignados sind weit über den Mittelmeerraum hinaus geflogen und haben in New York ein Feuer entfacht, dessen Funken in Form der Occupy-Bewegung nun wiederum bei uns angekommen sind. Ich nehme dies zum Anlass, ein paar Gedanken zu veröffentlichen, die ich vor langer Zeit aufgeschrieben habe. Seit etwa drei Jahren verwende ich eine E-Mail-Signatur, die seit einiger Zeit auch als Untertitel mein Blog ziert: Lerne, wie die Welt wirklich ist, aber vergiss niemals, wie sie sein sollte. Dies ist der Hintergrund dieser Signatur.

Jeder, der schon einmal mit politischen Protesten im weitesten Sinne in Kontakt kam, dürfte ein in der ein oder anderen Form immer wiederkehrendes Schema kennen. Ein paar "aufmüpfige junge Leute" haben eine gute, vielleicht sogar etwas revolutionäre Idee, wie die Welt aussehen oder funktionieren sollte. Sie schwingen mehr oder weniger kohärente Reden voll Idealismus und verstehen nicht, wie der Rest der Welt so blind sein kann, die Wichtigkeit ihrer Ideale nicht zu sehen.

Wenn es schwierig wird, sie zu ignorieren, geben irgendwann die im Geiste Älteren — sie sind die Vertreter des Establishments, so sehr das nach Klischee klingen mag — ihre Statements ab. Man habe ja Verständnis für das, was die jungen Leute sagen, aber ihre Ideen sind vollkommen unrealistisch. Die Proteste werden diskreditiert, indem man sie naiv nennt, und der ein oder andere mimt den alterserfahrenen Weisen, obwohl die Dinge, die er sagt, nicht weise sind, sondern einfach nur zynisch.

Das langfristige Ergebnis ist von Protest zu Protest anders. In den meisten Fällen werden die Jungen vom entgegengebrachten Widerstand einfach nur entmutigt und entpolitisiert. In einigen Fällen werden sie radikalisiert. Und manchmal bleiben sie hartnäckig, lernen dazu und setzen ihre Ideen am Ende, in der Regel in abgewandelter Form, um. Wenn dies geschieht wird die Welt meistens zu einem besseren Ort.

Hinter diesem Konflikt stehen zwei grundlegend verschiedene Sichtweisen auf die Welt.

Auf der einen Seite gibt es den Blick auf die Welt wie sie ist. Dieser Blick ist essentiell um in der Welt zurechtzukommen, und jeder Mensch schult ihn mehr oder weniger bewusst sein Leben lang. Mit wachsender Erfahrung wird dieser Blick auf ganz natürliche Weise schärfer.

Auf der anderen Seite gibt es den Blick auf die Welt wie sie sein soll. Wir Menschen sind einzigartig in unserer Fähigkeit, flexibel Einfluss auf unsere Umwelt zu nehmen. Unser Erfolg als Spezies liegt darin, diese Möglichkeit auch zu nutzen. Aber dazu benötigen wir einen Blick dafür, wie die Welt anders aussehen könnte um dann zu entscheiden, wie wir sie verändern wollen.

Diese beiden Sichtweisen sind Gegensätze, die sich ergänzen. Wer zu sehr nur für das schwelgt was sein soll, schätzt womöglich falsch ein, in wie weit seine Ideale überhaupt realisierbar sind, und wie sie — womöglich in angepasster Form — erreicht werden können. Wer im Gegenzug nur den Blick dafür hat, was ist, der steht der Verbesserung der Welt einfach nur im Weg. Wir müssen die beiden Sichtweisen in Einklang bringen, um langfristig erfolgreich zu sein.

Das ist leider gar nicht so einfach, weil die typische Persönlichkeitsentwicklung dem entgegensteht. Mir fällt dazu immer wieder ein Satz aus Die Fetten Jahre sind vorbei ein: "Wer unter dreißig ist und nicht links, hat kein Herz, und wer über dreißig ist und immer noch links, hat keinen Verstand". Dieser Satz ist natürlich falsch. Er ist genau die Art von Pseudoweisheit, mit der das Establishment so gerne versucht, jugendlichen Idealismus zu zerstören. Aber gerade dadurch bringt er das Problem auf den Punkt.

Wir lernen erst im Laufe unseres Lebens, die Komplexität der Welt zu verstehen. Sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen erfordert geistiges Engagement und Demut vor den Grenzen des eigenen Wissens. Trotzdem müssen wir uns dem stellen — viele meiner Texte entstehen letztlich aus diesem Prozess heraus. Die Gefahr ist aber, dass wir vor lauter Verständnis für das, was ist, plötzlich den Blick dafür verlieren, was sein soll.

Ich sehe kein einfaches Rezept um das zu verhindern, sondern kann nur immer wieder einen Rat wiederholen, der ganz besonders auch an mein zukünftiges Ich gerichtet ist: Lerne, wie die Welt wirklich ist, aber vergiss niemals, wie sie sein sollte.

Mittwoch, November 09, 2011

Die Marktlogik der Popkultur

Was haben Lady Gaga, Günter Jauch, und andere Stars gemeinsam? Sie alle verdienen mehr, als ihr Talent eigentlich wert ist.

Keine Frage: ganz talentfrei werden die wenigsten zum Star, zumindest nicht für lange. Vielleicht sind viele der Stars sogar deshalb zum Star geworden, weil sie tatsächlich zu den Besten in ihrem jeweiligen Gebiet gehören. Darauf kommt es mir aber hier nicht an. Worauf es ankommt ist ganz einfach. Es gibt viele, viele andere Menschen, die einer Lady Gaga oder einem Günter Jauch in deren jeweiligen Beschäftigungsfeld das Wasser reichen können, was das reine Talent angeht. Lady Gaga ist in dem, was sie tut, um Größenordnungen besser als ich, aber sie steht mit ihrem Talent nicht allein da. Warum verdient sie dann soviel mehr als andere Musiker?

Um es anders zu formulieren: Talent ist in praktisch jedem Bereich und in praktisch jeder Hinsicht ungefähr normalverteilt. Einkommen ist aber -- besonders in Bereichen, die im weitesten Sinne der populären Kultur zugeordnet werden können -- exponentialverteilt. Woher kommt diese Diskrepanz?

Dieses Phänomen hat mich immer wieder gewundert. Denn zum einen läuft es dem Fairness-Verständnis der meisten Menschen zuwider. Wenn Leistung angemessen bezahlt werden soll, und die Fähigkeiten der Menschen ungefähr normalverteilt sind, sollte dann nicht auch das Einkommen ungefähr normalverteilt sein?

Zum anderen stellt sich die Frage, warum eigentlich nicht der Wettbewerb auf "dem Markt" dieses Missverhältnis zwischen Leistung und Einkommen korrigiert. Was läuft da schief?

Hier ist eine Sichtweise gerade auf diese letzte Frage. Lady Gaga verkauft sich nicht auf dem Markt für Musiker. Sie verkauft sich auf dem Markt für Lady Gagas (oder Ladies Gaga?). Auf diesem Markt gibt es aber nur einen Anbieter, und dementsprechend profitiert Lady Gaga von ihrer Stellung als Monopolist. In ihrem Fall wird dieses Monopol sogar noch über das Urheberrecht staatlich gestützt.

Genauso sieht es bei Günter Jauch aus, und bei praktisch jedem anderen Star der populären Kultur, sei es im Fernsehen, im Kino, in der Musik oder sonstwo. Die Stars werden nicht für ihre Leistung bezahlt, sondern für die Marke, zu der sie entweder durch Zufall geworden sind, oder zu der sie sich ganz bewusst stilisiert haben.

Diese Dynamik ist heutzutage stärker als noch vor zweihundert Jahren. Auch damals konnten Stars ihre Marke monopolisieren, aber mit einer sehr viel kleineren Reichweite. Mangels moderner Kommunikationstechnologie gab es, im Vergleich zu heute, nur kleinere, dafür aber viel mehr "Kulturkreise", in denen sich jeweils lokale Stars etablieren konnten. Heute ist es schwieriger für Künstler, sich lokal zu etablieren, weil sie von den globalen Stars so leicht übertönt werden können. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach den wenigen Stars, die noch existieren, sehr viel größer. Die Verzerrung des Verhältnisses von Einkommen zu Talent wird also ebenfalls stärker.

Aber ist das gut oder schlecht? Und nach welchem Maßstab bewertet man das überhaupt?

Letztlich muss darauf jeder seine eigene Antwort finden. Ich persönlich finde den ganzen Zirkus zutiefst unsympathisch. Da er in vieler Hinsicht auf natürliche Weise entsteht, ja, viele Menschen es offenbar genau so und nicht anders wollen, muss man wohl damit leben. Allerdings muss man ihn nicht auch noch fördern.

Insbesondere muss man ihn nicht noch mit öffentlichen Mitteln fördern.

Vor diesem Hintergrund sollten gerade die Öffentlich-Rechtlichen Sender in sich gehen und reflektieren, ob nicht vielleicht zu viele ihrer Sendungen den Namen eines Stars im Titel haben. Sollen doch von mir aus die privaten Sender ihre Stars überbezahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen sollten einfach Wert auf gutes Programm und gute Sendungen legen (und das bedeutet übrigens nicht einfach nur verstaubte Kultursendungen!).

Wenn dann die Schausteller oder Moderatoren dieser Sendungen im Laufe der Zeit zu Stars werden, dann ist das in Ordnung, solange die Sender sich nicht zu übertriebenen Gagen verleiten lassen.

Im Grunde ist es sogar gut, wenn die Öffentlich-Rechtlichen auf diese Weise zu einer Quelle neuer Stars werden. Dann besteht zumindest die geringe Hoffnung, dass sich die Aufmerksamkeit der Popkultur etwas weniger stark konzentriert, und dadurch die ungleiche Einkommensverteilung zumindest ein klein wenig abgeflacht werden kann.

Donnerstag, Oktober 20, 2011

Der Rettungsplan der Troika wird fehlschlagen. Zeit für das Endspiel

Von L. Randall Wray. Aus dem Englischen übersetzt von Nicolai Hähnle.

Wieder zieht ein Rettungsplan für die Währungsunion seine Runden durch Mitteleuropa—das verfügbare Gesamtvolumen wird auf umgerechnet 600 Milliarden Dollar erhöht. Deutschland hat zugestimmt, seinen Beitrag zum Fonds um mehr als umgerechnet 100 Milliarden Dollar zu erhöhen. Aber die Slowakei hat ihr Veto gegen die Rettung ausgesprochen, und alle Augen richten sich nun auf den kommenden Gipfel am 23. Oktober. (Anm. d. Ü.: Seit Erscheinen des Originalartikels hat das slowakische Parlament dem Rettungsplan zugestimmt.)

Keine Sorge: irgendein Rettungspaket wird kommen, egal was geschieht, weil das Zentrum Europas seine Banken retten will—und diese halten Milliarden von Euros in den gefährdeten Staatsanleihen. Niemand ist dumm genug um zu glauben, dass der jetzige Plan reichen wird. Zuletzt hat es die Dexia Group getroffen, einen belgisch-französischen Giganten, der sich auf Staatsschulden spezialisiert hat. Er wurde bereits einmal gerettet und muss jetzt wieder gerettet werden. Aber Dexia is nur der Dominostein des Tages—auch die anderen europäischen Banken werden fallen. Das ist kein griechisches Problem. Es ist kein irisches Problem. Es ist kein portugiesisches Problem. Es ist kein spanisches Problem. Es ist kein italienisches Problem.

Es ist ein Problem der Währungsunion selbst, und einfach nur Löcher zu stopfen wird niemals ausreichen.

Der Konstruktionsfehler der Währungsunion ist die Trennung der Staaten von ihren Währungen, wie ich, zusammen mit Charles Goodhart, Warren Mosler und Wynne Godley, seit langem argumentiere. (Hier ist ein neuerer Policy Brief zum Thema.) Und wie ich vor wenigen Wochen gesagt habe ist die Währungsunion ein System, dessen Scheitern bereits im Entwurf veranlagt war. Es gibt keine zentrale Regierung, von der die Währung ausgegeben wird. Deshalb gibt es niemanden, der in hinreichend großem Umfang Fiskalpolitik machen kann, um Wirtschaftszyklen entgegenzutreten, geschweige denn um eine Finanzkrise in der Größenordnung, wie wir sie seit 2007 sehen, in den Griff zu kriegen.

Der nahende Sturm—wenn die Finanzinstitute gezwungen werden, sich dem wahren Ausmaß ihrer Verluste zu stellen—wird die Eurostaaten überwältigen.

Selbst wenn die Eurostaaten nicht alle Hände voll damit zu tun hätten, mit den Fingern aufeinander zu zeigen und über die verschwenderische Ausgabenpolitik der jeweils anderen zu schimpfen, würde die gegenwärtige Konstruktion der Eurozone eine wirksame Antwort auf die Krise verhindern. Wenn Finanzmärkte ein Mitglied der Währungsunion angreifen, dann gerät es schnell in eine teuflischen Schuldenfalle, weil seine Zinssätze steigen und ein Loch in den Haushalt reißen. Die anderen Staaten können bestensfalls ein Schuldenpaket zusammenstellen, bei dem zu etwas besseren Bedingungen Geld verliehen wird.

Aber was die hoch verschuldeten Staaten brauchen sind nicht noch mehr Schulden, sondern ein Schuldenerlass und Wirtschafswachstum. Der Sparkurs, der ihnen im Gegenzug für den niedrigeren Zinssatz abverlangt wird, schädigt ihre Wirtschaft, wodurch das Defizit größer wird und noch mehr Schulden gemacht werden müssen.

Das ist die Falle, in die der verschuldete Staat rutscht: wenn er sich Geld von den Märkten leiht, dann steigen die Zinssätze; wenn er von den anderen Eurostaaten oder dem IWF leiht, geht sein Wirtschaftswachstum zurück und die Steuereinkünfte sinken.

Es ist eine Zwickmühle.

Eine Lösung für die in Schwierigkeit geratenen Staaten ist, die Währungsunion zu verlassen und zu einer eigenen, von der dann souveränen Regierung ausgegebenen Währung zurückzukehren—also die Drachme für Griechenland, Lira für Italien, und so weiter. Die Umstellung wird für kurzfristig für Chaos und damit verbundene Kosten sorgen. Aber die Staaten könnten danach ihre innere Handlungsfähigkeit wieder herstellen und die Krise bekämpfen. Ein Zahlungsausfall bei Anleihen, die in Euro laufen, wäre notwendig. Die EU könnte mit Sanktionen reagieren. Aber das wäre besser als das Konzept von Nord- vs. Süd-Euro, "Teutonic vs. Latin", das vorgeschlagen wurde, und die Staaten einfach nur an eine andere externe Währung binden würde. Ein Staat wie Griechenland wäre genauso handlungsunfähig wie jetzt, wenn auch mit einer abgeschwächten Währung.

Wenn die Auflösung der Währungsunion nicht gewollt ist, dann ist die einzige echte Lösung, sie grundlegend zu umzubauen. Viele Kritiker machten die EZB für das schleppende Wachstum vor allem der Peripherie verantwortlich. Die EZB habe den Leitzins zu hoch gehalten, als dass Vollbeschäftigung hätte erreicht werden können. Ich war immer der Ansicht, dass dieses Argument falsch ist—nicht weil ein niedriger Leitzins nicht wünschenswert gewesen wäre, sondern weil selbst mit der perfekten Zentralbank das wahre Problem immer noch bei der beschränkten Handlungsfähigkeit der Politik in Sachen Fiskalpolitik gelegen hätte. Tatsächlich haben Claudio Sardoni und ich vor ein paar Jahren gezeigt, dass die Geldpolitik der EZB nicht wesentlich strenger war als die der Fed. Trotzdem hat sich die US-Wirtschaft durchwegs besser entwickelt. (Working Paper)

Es war die Fiskalpolitik, in der sich die beiden Währungszonen unterscheiden. Der Haushalt der Regierung in Washington macht mehr als 20% des BIP aus, und das üblicherweise bei einem Defizit von mehreren Prozent des BIP. Im Unterschied dazu macht der Haushalt des EU-Parlaments weniger als 1% des BIP aus. Die einzelnen Eurostaaten haben zwar versucht, diese Lücke durch Defizite der eigenen Regierungen füllen, aber das hat zu genau den Problemen geführt, die wir heute sehen.

Als Defizite und Schulden stiegen, haben die Märkte die Zinssätze erhöht. Sie haben erkannt, dass die Eurostaaten—im Gegensatz zu souveränen Staaten wie die USA, Japan oder Großbritannien—die Nutzer einer externen Währung sind. Wie ich schon früher argumentiert habe ist ihre Situation eher mit der von US-Bundesstaaten vergleichbar. Sie könnten zwar einerseits viel größere Defizite haben als US-Bundesstaaten (die alle bis auf zwei durch ihre Verfassung dazu gezwungen werden, den Haushalt auszugleichen)—teilweise auch wegen der Erwartung, dass die EZB den Zentralbanken der Länder aushelfen würde, wenn die Dinge schlecht laufen. Andererseits unterstützt Washington die US-Bundesstaaten mit seiner Fiskalpolitik—diese Stütze fehlt den Eurostaaten. Bestenfalls könnten sie Euro von europäischen Institutionen oder dem IWF leihen. Aber das erhöht nur die Zinssätze und führt in die teuflische Schuldenfalle. Als Folge fließt ein größerer Teil der Defizite in der Währungsunion in Zinszahlungen, die nicht gerade der beste Konjunkturimpuls sind. Amerika vermeidet dies zu einem gewissen Grad, indem die Bundesstaaten von den Märkten zu ausgeglichenen Haushalten gezwungen werden, während Washington die Folgeschäden durch Ausgleichszahlungen dämpft.

Sobald die Schwäche der Währungsunion verstanden ist, ist es nicht schwer, die Lösungen zu sehen. Eine besteht darin, den fiskalpolitischen Handlungsspielraum des EU-Parlaments zu vergrößern, zum Beispiel indem sein Budget auf 15% des BIP erweitert wird und ihm die Möglichkeit gegeben wird, Schulden aufzunehmen. Ob die Entscheidungen über die Ausgaben zentral gefällt werden sollen ist eine politische Frage—das Geld könnte einfach auf pro-Kopf-Basis an die einzelnen Eurostaaten überwiesen werden.

Auch die EZB kann dies tun. Man kann die Regeln zum Beispiel so ändern, dass die EZB Anleihen der Mitgliedstaaten im Wert von bis zu 6% des BIP der gesamten Eurozone kaufen kann. Als Käufer kann sie den Zinssatz festlegen, am besten wohl auf den Leitzins der EZB oder auf einen festen Spread darüber. Auch hier würden die Kontingente auf die Mitgliedsstaaten auf einer pro-Kopf-Basis verteilt. Dies ist ähnlich zu dem Vorschlag der "Blue Bonds" und "Red Bonds", den ich vor einigen Wochen besprochen habe. Die Staaten könnten auch weiterhin Anleihen auf dem freien Markt ausgeben, so dass sie mehr als die von der EZB getragenen Schulden aufnehmen könnten—so wie auch US-Bundesstaaten Anleihen ausgeben.

Man kann sich Varianten dieser Idee ausdenken, zum Beispiel die Schaffung einer Euro-weiten Finanzierungsbehörde, die von der EZB abgesicherte Schulden ausgibt um die Schulden der Regierungen aufzukaufen—wiederum vergleichbar mit den "Blue Bonds". Essentiell ist aber, dass die Schulden zentral garantiert werden, dass also die EZB oder die EU als Ganzes hinter den Schulden steht. Dadurch bleiben die Zinssätze niedrig und die "Marktdisziplin" sowie der Teufelskreis der Schulden wird entfernt. Indem die Anleihen nach einer Formel (d.h. pro Kopf) auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden, sollte jeder den gleichen Zinssatz erhalten.

All diese Vorschläge sind technisch einfach und wirtschaftlich vernünftig. Sie sind politisch schwer umsetzbar. Je länger die EU wartet, um so schwieriger wird es. Krisen verstärken die Rufe nach Auflösung, vergrößern die Wahrscheinlichkeit einer Trennung und vergrößern gegenseitige Feindseligkeiten. Dies wiederum verzögert eine echte Lösung, wodurch eine "Great Depression 2.0"—die Kombination eines Abschwungs zusammen mit Schuldendeflation à la Fisher—immer wahrscheinlicher wird.

Ich werde mein Argument, dass auch die US-Banken auch am Ende sind, hier nicht wiederholen: platzende Blasen auf den Kapital- und Rohstoffmärkten, der fortlaufende Niedergang des US-Immobilienmarktes und der Tsunami aus Klagen gegen der Betrug der Bankster werden sie übel treffen.

Der Kapitalismus der Money Manager ist dem Untergang geweiht. Wir müssen uns entscheiden, welches Endspiel wir möchten.

L. Randall Wray ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of Missouri-Kansas City und Senior Scholar am Levy Economics Institute in Bard College, NY. Er ist unter anderem der Autor von Understanding Modern Money: The Key to Full Employment and Price Stability (Elgar, 1998) und Money and Credit in Capitalist Economies (Elgar, 1990). Er hat seinen B.A. von der University of the Pacific, und einen M.A. und Ph.D. von der Washington University in St. Louis. Er bloggt regelmässig auf Great Leap Forward und New Economic Perspectives, wo er den Modern Money Primer schreibt.

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Link zur Originalfassung.

Mittwoch, Oktober 05, 2011

Def.: Souverän, monetärer

Monetär souveräne Regierungen sind nicht wie du und ich, und sie sind auch nicht wie andere Regierungen. Dieser zentrale Punkt wird von Modern Monetary Theory immer wieder betont, während ihn andere volkswirtschaftliche Theorien praktisch vollständig unterschlagen. Aber was bedeutet das eigentlich, monetäre Souveränität?

Es bedeutet, dass die Regierung ihre eigene Währung ausgibt und nur diese für die Begleichung von Steuerschulden akzeptiert.

Eine Regierung kann ihre Souveränität auf verschiedene Art und Weise freiwillig einschränken:In diesen Fällen kann die Regierung ihre Souveränität zwar jederzeit zurück erlangen, indem sie diese freiwilligen Einschränkungen aufhebt. Das ist zum Beispiel 1971 unter Richard Nixon in den USA passiert. Für die Analyse betrachten wir sie aber oft als nicht monetär souverän, einfach weil sie sich so verhält als ob.

Denn hier ist der Kern der Sache. Eine monetär souveräne Regierung ist in ihrer eigenen Währung immer zahlungsfähig. Und nicht nur das. Eine monetär souveräne Regierung finanziert sich nicht. Nicht durch Steuern, nicht durch Schulden, nicht durch irgendetwas anderes. Im Kontext einer monetär souveränen Regierung ist es schlicht bedeutungslos, von Finanzierung zu sprechen.

Du und ich, wir sind nicht unbegrenzt zahlungsfähig. Wenn das Guthaben auf unserem Konto erschöpft bzw. der Dispokredit ausgereizt ist und wir eine Überweisung tätigen wollen, dann sagt die Bank "Nein". Deswegen müssen wir uns irgendwie finanzieren, sei es über Einkommen oder über Darlehen.

Mit einer Regierung, die zwar eine eigene Währung hat, diese aber freiwillig zum Beispiel an den US$ koppelt, verhält es sich ähnlich. Sie kann zwar prinzipiell beliebig viel Geld in der eigenen Währung ausgeben. Aber sie hat versprochen, alles ausgegebene Geld aus der eigenen Währung im Zweifelsfall in US$ umzutauschen. Diese US$ müssen irgendwo herkommen, oder sie muss das Versprechen brechen.

Eine monetär souveräne Regierung ist in einer grundsätzlich anderen Situation. Sie schreibt die Regeln, nach denen ihr Geldsystem funktioniert. Wenn sie sagt, dass an jemanden Geld überwiesen werden soll, dann gibt es niemanden, der "Nein" sagen kann.

(Kleiner Einschub am Rande: Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind sowohl Legislative als auch Exekutive inklusive Zentralbank Teil der Regierung. Wenn die Legislative der Exekutiven eine Zahlung verbietet, dann ist die Regierung aus volkswirtschaftlicher Perspektive nicht zahlungsunfähig, sondern zahlungsunwillig. Solche Vorgänge sind interessant für Politikwissenschaft und Verhaltenspsychologie, aber mit Volkswirtschaft haben sie herzlich wenig zu tun.)


Warum Steuern und Schulden?

Du und ich, wir müssen uns finanzieren, um zahlungsfähig zu sein. Eine monetär souveräne Regierung ist sowieso immer zahlungsfähig. Es ist also unsinnig, von ihrer Finanzierung zu sprechen. Wenn Steuern und Schulden aber nicht zur Finanzierung benötigt werden, wozu braucht man sie dann?

Steuern, die nur mit der Währung der Regierung bezahlt werden können, erzeugen Nachfrage nach dieser Währung und geben ihr dadurch überhaupt erst einen Wert. Man kann sich das an einem Gedankenexperiment überlegen. Es wird auch an ganz konkreten Beispielen aus der jüngeren Geschichte deutlich. Zudem scheinen Steuern auch in der viel älteren Geschichte ganz zentral zur Verbreitung von Geld beigetragen haben.

Gibt die Regierung zu viel Geld aus, so dass die Nachfrage insgesamt die produktiven Kapazitäten der Wirtschaft übersteigt, dann kann es zur erhöhten Inflation kommen. In diesem Fall gibt es eine politische Wahl. Wenn die Regierung der Ansicht ist, dass mehr öffentliche Leistungen zur Verfügung gestellt werden sollen, dann kann sie die Steuern erhöhen und dem privaten Sektor auf diese Weise Kaufkraft entziehen. Dadurch sinkt die Gesamtnachfrage, und die Inflation wird gedämpft. Alternativ kann die Regierung ihre Ausgaben senken, wenn weniger öffentliche Leistungen gewünscht werden. Die treibende Kraft von Steuern zur Stabilisierung des Werts der Währung ist jedenfalls klar.

Schulden sind dagegen unnötig. Eine monetär souveräne Regierungen müsste keine Schulden im Sinne von Anleihen ausgeben. Haushaltsdefizite würden dann einfach zu wachsenden Reserven bei der Zentralbank führen. Diese sind aus Sicht der Bilanz natürlich immer noch Verbindlichkeiten der Regierung, repräsentiert in diesem Fall durch die Zentralbank. Sie werden aber nicht als Staatsschulden betrachtet. (Warum das so ist ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Vermutlich ist das alles eine Frage des Framings.) Das hat technische Folgen für die Geldpolitik, aber ansonsten ändert sich nichts.


Moralische Pflichten des monetären Souveräns

Jede Regierung ist dem Wohl der Bevölkerung verpflichtet. Wenn sie sich dieser Pflicht verweigert, dann sollte die Bevölkerung die Kisten der Freiheit (bzw. eine schlussendlich unblutigere Variante!) benutzen. Zum Wohl der Bevölkerung gehört nicht nur, aber eben auch, das wirtschaftlich-materielle Wohl. Eine monetär souveräne Regierung hat dafür besonders mächtige Hebel zur Verfügung.

Monetäre Souveränität setzt die Gesetze der Physik nicht außer Kraft. Was die natürlichen Ressourcen und produktiven Kapazitäten eines Landes nicht hergeben, kann auch vom monetären Souverän nicht herbei gezaubert werden. Aber die Regierung muss dafür sorgen, dass die bestehenden Kapazitäten zum Wohl der Bevölkerung genutzt und für die Zukunft gepflegt und ausgebaut werden.

Die Regierung hat noch eine weitere Pflicht. Arbeit ist ein ganz zentraler Bestandteil menschlichen Lebens und sozialer Gemeinschaft. Dadurch, dass unsere Wirtschaft durch und durch monetarisiert ist, entsteht Arbeitslosigkeit, und es gibt im freien Markt keinen Mechanismus, um sie zu verhindern. Also muss die Regierung, stellvertretend für die Gesellschaft insgesamt, jedem eine reguläre Arbeit zu ermöglichen, zum Beispiel über eine Job-Garantie.

Das Schöne ist, dass die Regierung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann. Indem sie den Menschen eine Arbeit gibt, kann sie gleichzeitig dafür sorgen, dass die bestehenden Kapazitäten des Landes besser zum Wohl der Bevölkerung genutzt werden.

An dieser Stelle kommt die monetäre Souveränität wieder ins Spiel. Eine nicht souveräne Regierung könnte bei der Umsetzung einer Job-Garantie oder anderer Konjunkturmaßnahmen in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Eine monetär souveräne Regierung ist frei von solchen Problemen, und sie hat die moralische Pflicht, diese Freiheit auch zu nutzen.

Sonntag, Oktober 02, 2011

Geld drucken ist nicht inflationär

... aber Geld ausgeben kann inflationär sein.

Ich rede und schreibe oft über die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die eine monetär souveräne Regierung hat, um die Lebensqualität der Bürger zu verbessern. Die meisten Menschen, egal ob on- oder offline, glauben anfangs nicht so recht, was alles möglich wäre, wenn man nur das Geldsystem richtig verstehen und nutzen würde, auch wenn gar kein free lunch versprochen wird.

Der häufigste Einwand ist, dass es inflationär wäre, die von Modern Monetary Theory aufgezeigten Möglichkeiten zu nutzen. Und ja: Es ist wichtig, ernste Diskussionen darüber zu führen, wie viel Inflation für eine gut laufende Wirtschaft notwendig ist, und wodurch Inflation ausgelöst wird und wodurch nicht.

Dies ist mein heutiger Beitrag: Hört auf damit, von "Geld drucken" zu reden, das hat in den Diskussionen über Inflation nämlich nichts zu suchen.


Geld drucken ist Bargeldmanagement

Der Begriff "Geld drucken" hat eine ganz klare, wörtliche Bedeutung, nämlich die Produktion von Geldscheinen und, im etwas erweiterten Sinn, Münzen.

Geld muss immer mal wieder gedruckt werden, damit das Geldsystem reibungslos funktionieren kann. Erstens halten Geldscheine nicht ewig. Alte Scheine müssen irgendwann durch neue ersetzt werden. Zweitens führen auch sehr niedrige Inflationsraten dazu, dass die Menschen langfristig mehr Geld zur Verfügung haben. Einen Teil davon wollen sie im Geldbeutel mit sich führen, und daraus speist sich ein langfristig wachsender Bedarf an Bargeld. Irgendwann muss mehr Geld gedruckt werden, alleine damit die Menschen das Geld, das sie sowieso als Guthaben auf dem Konto haben, auch am Automaten abheben können.

Ja, die Kausalität läuft in der Praxis moderner Geldsysteme genau anders herum, als der Volksmund behauptet. Wegen Inflation muss als Konsequenz Geld gedruckt werden. Die Situation in Argentinien im Januar 2011 hat das sehr eindrucksvoll demonstriert.

Auch aus theoretischer Perspektive ist es unsinnig, von einer Kausalität von Geld drucken hin zu Inflation zu sprechen. Es hilft, sich zu vergegenwärtigen, welche Transaktionen mit dem Drucken von Geld verbunden sind.

  1. Eine Geschäftsbank fordert bei der Zentralbank Bargeld an. Die Zentralbank zieht den entsprechenden Betrag von den Reserven der Bank ab und schickt dann einen gepanzerten Wagen mit frisch gedruckten Geldscheinen los. Die beteiligten Bilanzen ändern sich wie folgt. Zunächst hat die Geschäftsbank Reserven bei der Zentralbank (nicht beteiligte Teile der Bilanzen sind grau dargestellt, und die Größen der Bilanzen sind natürlich nur qualitativ zu verstehen):



    Nach dem Tausch von Reserven gegen Bargeld sehen die Bilanzen so aus:



    Es hat sich also nur die Zusammensetzung des Geldvermögens verändert, die Menge an Geldvermögen und auch die Größe der Bilanzen bleiben gleich.

  2. Irgendwann kommt dann ein Kunde der Bank auf die Idee, Geld am Automaten abzuheben. Er tauscht also sein Guthaben bei der Bank gegen Bargeld, und die Bilanzen ändern sich entsprechend:



    Die Bilanz der Geschäftsbank schrumpft, weil ihre Rolle als Vermittler im Geldsystem reduziert wurde. Aber ansonsten ändert sich wieder nur die Zusammensetzung. Insbesondere ist der Kunde, der Geld abgehoben hat, genauso reich oder arm wie vorher.

Diese Illustration hat hoffentlich klar gezeigt, dass sich durch das Drucken von Geld keine Vermögen ändern. Es ändert sich nur die Form der Vermögen auf vernachlässigbare Weise. Somit kann es sich auch nicht auf die Inflation auswirken.


Aber "Geld drucken" ist eine Metapher!

Das ist die vermutlich beliebteste Ausrede, gegen die ich zwei Einwände vorbringen möchte.

  1. Metaphern sind gut, wenn sie einen Begriff aus einem anderen Themenbereich übertragen, um Sachverhalte anschaulich aufzuklären. Der Begriff "Geld drucken" hat aber bereits eine ganz klare wörtliche Bedeutung. Ihn zusätzlich mit einer anderen Bedeutung zu überladen schadet einer seriösen Diskussion nur.

  2. Wer Metaphern benutzt, der sollte genau erklären können, wofür sie stehen. Wenn aber "Geld drucken" in der wörtlichen Bedeutung nicht inflationär ist, was ist es dann, das als inflationär kritisiert wird?

Der geneigte Leser wird auf der Suche nach einer Antwort auf diese letzte Frage hoffentlich zu dem Schluss kommen, dass Geld ausgeben für die Diskussion sehr viel relevanter ist als Geld drucken.

Das wirft dann wieder neue Fragen auf. Unterscheiden sich private und staatliche Ausgaben im Hinblick auf Inflation? Und: es werden andauernd gigantische Mengen an Ausgaben getätigt, auch wenn die Inflationsrate niedrig ist. Es kann also nicht jede Ausgabe inflationär sein. Vielleicht nur, wenn insgesamt zu viel ausgegeben wird? Aber wie viel ist zu viel, und woran erkennt man das?


Bessere Qualität in (wirtschafts-)politischen Diskussionen

Es geht mir hier und jetzt nicht darum, diese Fragen zu beantworten, sondern ein klein wenig auf eine bessere Diskussionskultur zu pochen. Folgendes Muster beobachte ich immer wieder: Person A schlägt eine politische Maßnahme vor. Person B kritisiert den Vorschlag mit der Begründung, dass dann Geld gedruckt würde und die Maßnahme deshalb inflationär wäre.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, Person B findet den Vorschlag eigentlich aus einem ganz anderen Grund schlecht, vielleicht weil er seinen persönlichen Moralvorstellung widerspricht. Das ist in Ordnung. Meinungsvielfalt ist gut, wenn auch manchmal etwas anstrengend. Aber in diesem Fall sollte Person B einfach offen und ehrlich zu dieser grundlegenden Meinungsverschiedenheit stehen. Der Versuch, sie mit Quatsch wie "Geld drucken" zu vertuschen, ist unanständig.

Die Alternative ist, dass Person B den Vorschlag prinzipiell gut findet, aber ganz ehrlich befürchtet, dass er zu zu hoher Inflation führen würde. Das muss man ernst nehmen. Aber die Tatsache, dass Person B von "Geld drucken" spricht, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass er das nicht richtig durchdacht hat. Dann sollten die Beteiligten innehalten und sich daran erinnern, dass Geld drucken nicht inflationär ist. Person B sollte versuchen, seine Kritik noch einmal zu durchdenken und anders zu formulieren. Welcher Aspekt der vorgeschlagenen Politik ist seiner Ansicht nach wirklich für die befürchtete Inflation verantwortlich, und über welche Mechanismen wird sie ausgelöst? Indem er sich diese Fragen stellt, kann Person B implizit selbst prüfen, ob er nicht womöglich einen Denkfehler begangen hat.

In jedem Fall gewinnt die Diskussion an Qualität, wenn auf den irreführenden Begriff "Geld drucken" verzichtet wird. Und jetzt gibt es wenigstens eine Seite, auf die ich (und vielleicht auch der geneigte Leser?) zukünftig linken kann, wenn wieder einmal jemand mit "Geld drucken" kommt.

Freitag, September 30, 2011

Die Schock-Strategie, und wie es anders geht

Es ist der Klassiker schlechthin: eine Wirtschaftskrise wird von den Reichen verwendet, um Klassenkampf zu betreiben.

Stellvertretend untertitelt zum Beispiel Nikolaus Piper in der SZ am 29.9. das "Thema des Tages" wie folgt:

Mit der Schuldenkrise verliert Europa seine Rolle als Vorbild: Das Modell des Sozialstaats gerät in Misskredit

Auch im Rest des Artikels wird insinuiert, dass die aktuelle Schuldenkrise in der Eurozone irgendwas mit den sowieso schon zurückgefahrenen Sozialstaaten in Europa zu tun habe. Unsere neoliberale Elite frohlockt über die Gelegenheit, unter diesem und ähnlichen Vorwänden die sozialen Netze weiter zu zerfleddern und die wirtschaftlichen Ungleichheiten zu vergrößern.

Aber was ist die Wahrheit? Lassen wir uns einmal aus der Perspektive von Modern Monetary Theory zusammenfassen:

  1. Der private Sektor will netto finanzielles Vermögen sparen, sei es aus reiner Lust am Horten, zum Aufbau einer "Kriegskasse" im Fall von Unternehmen, oder für die Altersvorsoge (übrigens, zum Thema Vermögen: ein Blick auf die Vermögensuhr kann ab und zu nicht schaden).

    Finanziellem Vermögen muss per Definition immer irgendwo eine finanzielle Schuld gegenüberstehen. Wenn der private Sektor netto im Plus sein soll, dann muss rein rechnerisch entweder das Ausland oder der Staat im Minus sein. Staatsschulden sind also zunächst einmal eine gute Sache, weil sie den Aufbau von privatem Geldvermögen ermöglichen.

  2. In jedem gut funktionierenden Geldsystem gibt es genau einen großen Herausgeber von öffentlichen Anleihen - und zwar die Regierung, die das jeweilige Geldsystem betreibt. In den USA ist das deren Bundesregierung, in Schweden ist es die Regierung in Stockholm, und so weiter. Der Rest der öffentlichen Anleihen, der von Kommunen und Bundesländern herausgegeben wird, macht einen deutlich kleineren Teil aus. Zudem greift die jeweils nächstgrößere Instanz im Zweifelsfall helfend unter die Arme. Beides sorgt für Stabilität.

  3. In der Eurozone gibt es im Gegensatz dazu 17 konzeptionell gleichrangige Herausgeber von öffentlichen Anleihen. Deshalb war die Eurozone von Anfang an labil.

    Sobald hinreichend große Anleger einen Anlass sehen, ihr Vermögen von einem Herausgeber von Anleihen zu einem anderen zu verschieben, lösen sie dadurch eine Änderung der Preise der Anleihen und damit der Yields aus. Dadurch muss dann der betroffene Staat auf neue Anleihen einen höheren Zinssatz bezahlen. Das wiederum erhöht dessen Defizit, und es wird von höheren Ausfallwahrscheinlichkeiten gemunkelt. Das wiederum ist für Anleger ein neuer Anlass, ihr Vermögen von den Anleihen dieses Staates hin zu einem anderen Herausgeber von Anleihen zu verschieben, und der Kreis schließt sich.

    Ein anfänglicher Impuls kann also in einen Teufelskreis ausarten, für den es keine Dämpfung gibt. Der erste größere Schock, den die Eurozone erlebt hat, hat genau diese Dynamik losgetreten.
Dieser grundlegende Konstruktionsfehler der Eurozone hat überhaupt nichts mit dem Sozialstaat zu tun, das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Aber diese Feststellung reich nicht aus. Wenn man immer nur gegen einen Mythos wettert (in diesem Fall der Mythos, der Sozialstaat habe zur Eurokrise geführt) gibt man ihm womöglich nur noch mehr Brennstoff.

Eine positive Botschaft muss also auch sein. Wie kann man den grundlegenden Konstruktionsfehler wirklich beheben?

  1. Da das eigentliche Problem ist, dass dem Großteil des privaten finanziellen Vermögens heutzutage Anleihen von 17 verschiedenen Herausgebern gegenüberstehen, muss zukünftig eben ein großer, zentraler Herausgeber diese Rolle übernehmen. Es kann sich dabei um europäische Anleihen handeln, es könnten aber auch einfach Passiva der EZB sein (also Reserven).

    Ja, richtig, es ist durchaus plausibel, dass zukünftig der größte Teil des Netto-Geldvermögens in Form von Reserven bei der EZB gehalten wird anstatt in Anleihen. Immerhin bezahlt die EZB auch Zinsen auf Reserven, der Unterschied zu Anleihen ist also ohnehin eher oberflächlich.

  2. Der zentrale Unterschied zwischen diesem Vorschlag und Eurobonds ist, dass bei Eurobonds nach wie vor die Euro-Staaten Schuldner sind. Ich dagegen bevorzuge den Weg der weitgehenden Entschuldung der Euro-Staaten ohne Zahlungsausfall, bei dem die Schulden einfach in eine zentrale Bilanz verschoben werden, weil das ehrlicher und einfacher ist.

    Außerdem erleichtert es den Weg hin zum Aufbau einer fiskalpolitisch schlagkräftigen Gemeinschaftsregierung. Ohne eine solche Regierung ist es schwierig, die Wirtschaftskrise, die sich unter der Schuldenkrise versteckt, zu bekämpfen.

  3. Auf dem Weg hin zu diesem Ziel gibt es zwei große Fragen. Erstens: Wie gelingt die Umstellung? Zweitens: Wenn die Umstellung erst einmal gelungen ist, wie kann dann dafür gesorgt werden, dass es auch so bleibt?

  4. Die Umstellung gelingt, indem man Schritt für Schritt beim Rollover der Staatsschulden diese nicht durch neue Staatsanleihen ersetzt. Bisher läuft der Rollover so: alte Anleihen laufen aus und werden durch den jeweiligen Staat zurückgezahlt. Ungefähr gleichzeitig werden in einer Auktion neue Anleihen ausgegeben.

    Dieser Prozess wird ersetzt durch: alte Anleihen laufen aus und werden mit Geld zurückgezahlt, das direkt von einer Euro-zentralen Instanz überwiesen wird. Diese Euro-zentrale Instanz könnte zum Beispiel die EZB sein, die die nötigen Reserven einfach "per Knopfdruck" bereitstellt.

    Natürlich muss irgendwie dafür gesorgt werden, dass das gerecht abläuft, zum Beispiel indem das Volumen für diesen neuen Prozess auf einen bestimmten Betrag pro Kopf beschränkt wird (ein Bezug auf das BIP wäre gegenüber den Menschen in wirtschaftlich schwächeren Staaten ungerecht).

  5. Stellen wir uns nun eine hypothetische Zukunft vor, in der sagen wir 70% der öffentlichen Schulden durch eine zentrale Instanz herausgegeben werden. Wie kann dafür gesorgt werden, dass das so bleibt?

    Der private Sektor will typischerweise netto finanzielle Vermögen aufbauen. Langfristig ist es schwierig, dies gegenüber dem externen Sektor zu tun. Also müssen die öffentlichen Schulden langfristig steigen, und 70% der Neuschulden müssen von der zentralen Instanz kommen, um den Status Quo zu erhalten. Aber wer entscheidet, wie viel und wofür das Geld, das diesen Schulden gegenübersteht, ausgegeben werden soll?

    Ich denke, dass dies letztlich höchst politische Entscheidungen sind und sein müssen. Automatismen, zum Beispiel solche die ans BIP gekoppelt sind, taugen wenig. Schließlich sind 3% Defizit bezogen aufs BIP in vielen Staaten heute viel zu wenig, während prinzipiell - in ferner Zukunft - Zeiten auf uns zukommen könnten, in denen bereits ein ausgeglichener Haushalt gegen die Inflationsbarriere stößt, und ein staatlicher Überschuss wirtschaftlich am sinnvollsten wäre.

    Es sind also politische Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, die der entsprechenden Legitimation bedürfen. Ja, ich wiederhole mich, aber im Grunde darf diese Macht nur beim Europäischen Parlament (evtl. beschränkt auf MEPs aus der Eurozone) liegen. Dieses kann dann die politische Entscheidung treffen, entweder selbst Geld auszugeben, oder Geld an die Mitgliedsstaaten zu verteilen, damit diese das notwendige Defizit erzielen können, ohne dass es zu Ungleichgewichten bei der Zusammensetzung der öffentlichen Schulden kommt.

  6. Ach ja, und lasst gefälligst den Internationalen Währungsfonds aus dem Spiel. Einmischung durch den IWF hat noch niemandem wirklich gut getan. Er hat keine Legitimation, um in der Eurozone mitzumischen, und wir brauchen ihn auch nicht.
Es gibt noch mehr zu tun, als ich angesprochen habe. Mit einer Umstrukturierung der öffentlichen Schulden kann nämlich die zugrunde liegende Wirtschaftskrise nicht beendet werden. Dafür muss das deutsche Lohndumping beendet werden, und die Eurozone braucht einen kräftigen Konjunkturimpuls, zum Beispiel über eine Job-Garantie. Genauso ist es eine gute Idee, die Umverteilung von Einkommen und Vermögen wieder etwas zurück zu drehen, indem stark progressive Einkommenssteuern (auch auf Kapitalerträge!) und Vermögenssteuern eingeführt oder ausgeweitet werden. Aber diese Maßnahmen alleine können den fundamentalen Konstruktionsfehler der Eurozone eben auch nicht beheben: es braucht beides.

Am wichtigsten aber bleibt, dass wir denjenigen, die die Schuldenkrise nutzen wollen, um den Sozialstaat abzubauen, Paroli bieten. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, und diese so sinnvolle und hart erkämpfte Institution muss erhalten bleiben.

Montag, September 19, 2011

Die Job-Garantie: Kernstück einer alternativen Wirtschaftspolitik

Ich möchte heute ein wenig bekanntes Konzept vorstellen, das seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in der ein oder anderen Form durch die Volkswirtschaftslehre geistert und in den letzten zwanzig Jahren einen deutlichen Entwicklungsschub erhalten hat. Es handelt sich um die Job Guarantee, wie sie unter anderem in Understanding Modern Money von Randall Wray ausführlich vorgestellt wird. Vom gleichen Autor gibt es auch ein neueres Working Paper, das einen kurzen Überblick über die Literatur gibt. Aber zunächst hole ich ein wenig aus, um die Motivation zu erklären.

Massenarbeitslosigkeit entsteht durch mangelnde Nachfrage. Wenn das Geschäft in der Kneipe so richtig gut läuft, dann wird eine zusätzliche Bedienung eingestellt. Wenn ein Produkt gut läuft, dann wird mit Neueinstellungen die Produktion ausgeweitet. Umgekehrt wirkt die gleiche Logik. Schwinden der Kneipe die Besucher weg, dann wird irgendwann das Personal gekürzt. Genauso läuft es in der Produktion.

Es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu. Wenn die Produktivität, also die Menge pro Arbeitsstunde real erzeugter Güter und Dienstleistungen, steigt, dann kann die gleiche Nachfrage mit weniger Arbeitnehmern bedient werden. Produktivitätssteigerungen sind eine gute Sache, aber sie bedeuten eben auch, dass die (reale) Nachfrage gleich schnell wie die Produktivität wachsen muss, wenn die Anzahl der Arbeitsplätze gleich bleiben soll. Wächst die reale Nachfrage langsamer, oder sinkt sie gar, so gehen Arbeitsplätze verloren. Wächst sie schneller, so können neue Arbeitsplätze entstehen.

Sowohl die Nachfrage als auch die Produktivität sind aggregierte Größen unserer Volkswirtschaft, eines extrem komplexen dynamischen Systems. Dass darin zyklische Schwankungen entstehen ist ganz natürlich, und es gibt keinen Grund, weshalb die reale Nachfrage immer von alleine mit genau der richtigen Geschwindigkeit wachsen sollte.

Die Arbeitslosen sind ein Puffer gegen diese Schwankungen. Geht die Nachfrage zurück, so wächst der Puffer an Arbeitslosen. Wenn die Nachfrage wieder steigt, dann können Firmen aus diesem Pool heraus Menschen einstellen.


Arbeitslosigkeit ist ein schlechter Puffer

Arbeitslosigkeit ist aus einer ganzen Reihe an Gründen für die Gesellschaft nicht wünschenswert.

Erstens ist Arbeitslosigkeit für die Betroffenen ein schwerer Schlag, sowohl wirtschaftlich als auch psychisch. Die Arbeitslosen als Gruppe sind nicht für ihr Schicksal verantwortlich, da hohe Arbeitslosigkeit ein makro-ökonomisches Phänomen ist. Es liegt also in der Verantwortung der Gesellschaft, an dieser Stelle zu helfen.

Zweitens ist Arbeitslosigkeit verschwendetes Potenzial. Eine Gesellschaft, die Menschen keine Möglichkeit gibt, einer produktiven Tätigkeit nachzugehen, nimmt damit eine geringere Wirtschaftsleistung und einen niedrigeren Lebensstandard insgesamt in Kauf.

Drittens bedeutet Arbeitslosigkeit in der Praxis heutzutage überall auch, dass viele Menschen über einen sehr langen Zeitraum arbeitslos sind. In dieser Zeit kommen sie aus der Übung, und dadurch gehen Fähigkeiten verloren. Arbeitslosigkeit verschwendet Potenzial also nicht nur, sie zerstört es auch und reduziert damit die Fähigkeit der Gesellschaft, zukünftige Probleme zu lösen.

Viertens verteilt sich Arbeitslosigkeit nicht gleichmäßig, sondern betrifft verschiedene Regionen und soziale Milieus unterschiedlich hart. So bedeutet eine Arbeitslosenrate von 10% eben auch, dass es einzelne Milieus gibt, in denen die Rate über einem Drittel liegt. Das hat Folgen für die soziale Realität dieser Milieus. Es ändert zum Beispiel die persönlichen Einstellungen gegenüber Arbeit und Arbeitslosigkeit, was in einen Teufelskreis führen kann. Zudem verarmt das Milieu und wird zur Brutstätte für Kriminalität, Gewalt, und Unruhen aller Art.


Die Job-Garantie: ein besserer Puffer

Genau hier haben Ökonomen wie Bill Mitchell und Randall Wray angesetzt und die Job-Garantie als bessere Alternative zur Arbeitslosigkeit entwickelt.

Kurz zusammengefasst sieht sie so aus: ein Regierungsprogramm wird eingerichtet, das jedem arbeitswilligen und -fähigen Bürger einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Dieser Arbeitsplatz wird zu einem gesetzlich festgelegten Lohn bezahlt und verlangt dem Arbeitnehmer eine mit anderen Arbeitsplätzen vergleichbare Leistung ab. Er ist unbefristet und für jeden ohne Malträtierung durch Arbeitsagenturen zugänglich. Die Arbeitsplätze decken gesellschaftliche Aufgaben ab, wobei die genaue Zuteilung immer auch eine politische Entscheidung ist.

Dieses Programm ersetzt die Arbeitslosigkeit als Puffer. Wenn die private Wirtschaft schlecht läuft und Arbeitsplätze abschafft werden die Arbeiter aufgefangen. Sie erhalten weiterhin ein (wenn auch reduziertes) Einkommen in einem sozialversicherungspflichtigen Job und können einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen. Wenn die private Wirtschaft wieder an Geschwindigkeit gewinnt und neue Arbeitsplätze schafft, kann sie Arbeiter aus dem Pool der Job-Garantie abwerben.

Zudem holt die Job-Garantie die Arbeitnehmer dort ab, wo sie mit ihren Fähigkeiten stehen, beinhaltet aber auch begleitende Fortbildungen. Diese sind den heutigen Weiterbildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen überlegen, weil sie mit einer echten Arbeit in Verbindung stehen und damit nicht nur sinnlose Beschäftigungstherapie sind. Anstatt in Zeiten der Arbeitslosigkeit wichtige Fähigkeiten zu verlieren kann also im Idealfall sogar das Gegenteil geschehen.

Das hat einen weiteren Vorteil. Private Firmen haben eine natürliche Abneigung dagegen, Arbeitslose einzustellen. Einerseits lautet das Vorurteil, dass Arbeitslose grundsätzlich weniger zur Arbeit fähig oder willens sind (ein jeder möge sich selbst überlegen, wie viel er von diesem Vorurteil hält). Andererseits haben Arbeitslose per Definition keinen Arbeitgeber, der ihnen ein Zeugnis ausstellen könnte. In der Job-Garantie haben Arbeitnehmer die Möglichkeit, ihre Leistung klar zu demonstrieren, und so sind private Arbeitgeber besser in der Lage, die Leistung der Kandidaten einzuschätzen. Etwaige angebotsseitige Hürden zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft werden also kleiner.

Es ist leicht zu sehen, dass die Job-Garantie in jedem der oben genannten vier Punkte gegen die Arbeitslosigkeit gewinnt.

Erstens wird der persönliche Schock der Arbeitslosigkeit gedämpft. Der Lohn wird in der Job-Garantie zwar in der Regel geringer sein als an einem privatwirtschaftlichen Arbeitsplatz, aber zumindest bleibt ein geregeltes, reguläres Arbeitsverhältnis bestehen.

Zweitens wird den heutigen Arbeitslosen eine für die Gesellschaft sinnvolle Tätigkeit gegeben. Selbst wenn rein markwirtschaftlich gesehen die ein oder andere individuelle Job-Garantie-Stelle nicht so produktiv sein sollte wie die ein oder andere Stelle in der Privatwirtschaft gilt immer noch ein ganz einfaches Prinzip: fast alles ist produktiver als Nichtstun. Und abgesehen davon: sobald die Privatwirtschaft sich berappelt und wieder Arbeitsplätze schafft, kann sie die Job-Garantie-Nehmer leicht abwerben. Die Job-Garantie tritt nicht mit der Privatwirtschaft in Konkurrenz.

Drittens können Arbeitnehmer in der Job-Garantie ihre Fähigkeiten erhalten und sogar weiter ausbauen.

Viertens kann die Leichtigkeit, mit der ein Arbeitsplatz in der Job-Garantie erhalten werden kann, auch die Entwicklung von sozial abgehängten Milieus positiv beeinflussen. Menschen werden wieder in reguläre Arbeitsverhältnisse eingebunden und finden so leichter zum Rest der Gesellschaft zurück.


Wo sollen die ganzen Arbeitsplätze herkommen?

In der Eurozone sind mehr als 15 Millionen Menschen arbeitslos. Es ist sinnvoll, groß angelegte zentrale Projekte zum Aufbau von Infrastruktur für die Zukunft zu starten, um so Arbeitsplätze zu schaffen. Aber der wahre Schlüssel zum Erfolg liegt in einer dezentralen Organisation.

Dazu wird jedem Land, jeder Kommune, und auch qualifizierten Non-Profit-Organisationen die Möglichkeit gegeben, Job-Garantie-Stellen auszuschreiben. Solange die zentral festgelegten Richtlinien eingehalten werden, werden die Stellen zu 100% über das Job-Garantie-Programm finanziert und schonen damit die ohnehin gestressten Haushalte von Kommunen und Ländern. Eine solche dezentrale Organisation kann effizient und unbürokratisch arbeiten. Es versteht sich natürlich von selbst, dass die Einhaltung der Spielregeln mit regelmässigen, aber unangekündigten Stichproben kontrolliert wird.

In den ersten Jahren mit der Job-Garantie werden wir Erfahrungen sammeln, die nicht vorhergesagt werden können. Es besteht aber kein Zweifel, dass genügend sinnvolle Projekte existieren um Arbeitsplätze zu schaffen. Ein jeder mag sich seine Lieblingsbeschwerde in Sachen Mängel in Infrastruktur oder öffentlichen Diensten überlegen und dies mit der gesamten Eurozone multiplizieren. Gerade die Einbindung von lokalen Organisationen hilft ja dabei, dass nicht (nur) die Prestigeprojekte von Europa-Politikern in Angriff genommen werden, sondern ganz konkrete Probleme vor Ort. Davon gibt es wahrlich genügend.


Wie soll das alles bezahlt werden?

Eigentlich könnte jede Regierung, selbst auf kommunaler Ebene, eine Job-Garantie einführen. Allerdings besteht die Gefahr, dass es zu finanziellen Engpässen kommt wenn das Land, das die Job-Garantie einführt, ein Leistungsbilanzdefizit hat. Gerade für die am härtesten von Arbeitslosigkeit betroffenen Länder, wie zum Beispiel Spanien, wäre es also besonders schwierig, die Job-Garantie wirklich durchzusetzen.

Deswegen soll sie von einer Regierung eingeführt werden, die im Sinne der Modern Monetary Theory monetär souverän ist, also eine eigene Währung mit flexiblen Wechselkursen ausgibt. Diese Regierung kann dann, ungestört durch irrationale Märkte, die notwendigen Ausgaben zur Bezahlung der Löhne einfach so tätigen.

An dieser Stelle geraten viele Menschen in die Nähe des Herzinfarkts. Zumindest fangen sie an, zu hyperventilieren. Das wäre doch Geld drucken! Dann gibt es Hyperinflation! Die Welt geht unter!

Natürlich haben die Entwickler der Job-Garantie diese Problematik bedacht. Im Gegensatz zu anderen möglichen Konjunkturprogrammen sagt die Job-Garantie nicht "Wir wollen X Bahnhöfe bauen, koste es was es wolle". Bei dieser Herangehensweise bestünde tatsächlich die Gefahr, dass Engpässe auf der Angebotsseite überlastet und Preise nach oben gedrückt werden. Stattdessen sagt die Job-Garantie: "Jeder der will, kann für Y Lohn eine Arbeit bekommen". Da dieses Y gesetzlich festgelegt ist, kann der Preis der Arbeit durch die Job-Garantie gar nicht weiter nach oben gedrückt werden. Wenn aber der Preis der Arbeit nicht nach oben gedrückt wird, dann bleiben auch weitere Effekte auf Preise in der Wirtschaft insgesamt aus. Zur Inflation kommt es also nicht.


Marktwirtschaftlich durchgesetzte Mindeststandards

Eines ist bezüglich des Preis der Arbeit aber auch klar. Der von der Job-Garantie bezahlte Lohn wird de facto zum Mindestlohn. Das Elegante dabei ist, dass es sich nicht um einen gesetzlichen Mindestlohn handelt. Stattdessen erklärt sich die Regierung über das Job-Garantie-Programm bereit, beliebig viele Arbeitsstunden zu einem festen Preis zu kaufen. Alles weitere regelt der Markt.

An einigen Stellen wird deshalb auch von einem "Job-Standard" gesprochen, im Kontrast zum Gold-Standard. Beim Gold-Standard fixiert die Regierung den Preis von Gold. Mit dem "Job-Standard" fixiert die Regierung den Preis von ungelernter Arbeit. Im Gegensatz zum gesetzlichen Stundenlohn ist es dabei als Ergebnis des Marktes durchaus denkbar, dass einige besonders attraktive Stellen geringer entlohnt werden.

Dieser Effekt kann auch für andere normative Zwecke genutzt werden. Wenn die Regierung der Ansicht ist, dass jenseits des Lohns zusätzliche Leistungen des Arbeitgebers zum Mindeststandard eines jeden Arbeitsplatz gehören sollte (seien es Weiterbildungsangebote, Kinderbetreuung, längerer Urlaub, etc.), dann kann sie diese Leistungen zunächst Job-Garantie-Nehmern anbieten. Dadurch übt sie marktwirtschaftlichen Druck auf private Arbeitgeber aus, mit vergleichbaren Angeboten nach zu ziehen, ohne dabei auf komplexe Regulierungen zu setzen.


Die Job-Garantie und der private Sektor

Die Einführung der Job-Garantie sagt nichts darüber aus, wie groß der Anteil des Staates an der Wirtschaft insgesamt sein soll. Auch nach der Einführung der Job-Garantie bleibt es das Ziel, die Beschäftigung im privaten Sektor zu erhöhen.

Die Job-Garantie springt aber ein, wenn der private Sektor versagt. Auch mit der Job-Garantie muss es nach einem Abschwung das wirtschaftspolitische Ziel sein, die Privatwirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Aber bis das gelingt vergeht in der Regel ein längerer Zeitraum. Aktuell versagt die Privatwirtschaft sogar seit über 30 Jahren dabei, genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Es geht einfach darum, diesen Zeitraum zu überbrücken, indem die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit durch die positiven Effekte der Job-Garantie ersetzt werden.

Auch die aktuelle Eurokrise zeichnet sich letztendlich vor allem dadurch aus, dass es den Mechanismen in der Privatwirtschaft nicht gelingt, die produktiven Kapazitäten unserer Gesellschaft vollständig zu nutzen - die hohe Arbeitslosigkeit ist nur eines von mehreren Indizien dafür. Die Scharmützel, über die in den Medien berichtet wird, sind zum größten Teil nur Symptome. Eine Euro-weite Job-Garantie würde viele unserer Probleme von der Wurzel her lösen. In wie weit sie politisch realisierbar ist ist aber eine andere Geschichte, und die soll ein andermal erzählt werden.

Samstag, September 17, 2011

Modern Monetary Theory - eine Zwischenbilanz

Vor etwas mehr als einem Jahr wurde ich auf die Modern Monetary Theory gestoßen. Das war eine großartige Erfahrung, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben den Eindruck hatte, dass hier wirklich jemand von Grund auf erklärt, wie unser Geldsystem tatsächlich funktioniert, ausgehend davon, welche Transaktionen die Zentralbanken und Geschäftsbanken dieser Welt tagtäglich durchführen. Was ist Geld eigentlich? Woher kommt es? Auf Fragen dieser Art hat MMT sehr klare und plausible Antworten. Es war, als würde ein Schleier von meinen Augen entfernt.

Meinen ersten Kontakt und erste Erkenntnisse daraus habe ich daraufhin in diesem Blog dokumentiert (#1, #2, #3). In diesen ersten Einträgen ist auch noch Skepsis zu erkennen, denn tatsächlich ist MMT immer noch eher eine Randerscheinung. In der Zwischenzeit habe ich weiter nach Lücken im Gebilde gesucht, und dabei viel gelernt und auch viele Flamewars mit erlebt. Inzwischen hat sich meine Überzeugung aber gefestigt, dass MMT die richtige Sichtweise auf makro-ökonomische Zusammenhänge liefert.

Es sind dann noch eine Reihe weiterer Einträge gefolgt, z.B. über Arbeitslosigkeit (#1, #2, #3) und über die Zusammenhänge in der Eurozone (#1, #2). Viele dieser Einsichten sind nicht exklusiv der MMT zuzuordnen, sondern kommen aus einem insgesamt besseren Verständnis der makro-ökonomischen Zusammenhänge.

Ich will nun einmal Zwischenbilanz ziehen, indem ich noch einmal explizit auf einige besonders hilfreiche Quellen zum Einstieg in MMT verlinke.
Zu jeden dieser Seiten gehört auch jeweils ein Blog, in dem Vertreter von MMT schreiben, teilweise mit wissenschaftlichem Hintergrund, teilweise aus Laienperspektive. Ich wünsche viel Spaß und Aha-Effekt beim Lesen!

Donnerstag, September 15, 2011

Woher kommt Massenarbeitslosigkeit?

Vor einiger Zeit habe ich über einige Aspekte dessen geschrieben, wie man mit Arbeitslosigkeit umgehen soll. Aber woher kommt Arbeitslosigkeit eigentlich? Diese harmlos wirkende Frage ist, zusammen mit der ebenso harmlos wirkenden Frage danach, wo eigentlich Profite herkommen, konstituierend für die Makro-Ökonomie als eigenständiges Forschungsgebiet. Das Gesamtsystem verhält sich nämlich eben nicht so wie ein mikro-ökonomischer Haushalt, der auf größere Dimensionen aufgeblasen wird.

In grauer Vorzeit gab es keine Arbeitslosigkeit. Jeder konnte sich im Zweifelsfall selbst mit Jagd oder Ackerbau beschäftigen. Selbst die Expansion der Siedler in Nordamerika kann man aus dieser Perspektive heraus noch als Flucht vor der Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit betrachten. Heutzutage funktioniert das nicht mehr so, und zwar nicht nur, weil die meisten von uns vom Ackerbau keine Ahnung mehr haben. Selbst wer das nötige Wissen besitzt kann nicht einfach auf eigene Faust Ackerbau betreiben, weil die geeigneten Grundflächen alle schon vergeben sind. Dies ist der erste Schritt zum Verständnis von Arbeitslosigkeit als Massenphänomen: Wenn die Besitzer der Produktionsmittel nicht genügend Arbeiter einstellen, dann entsteht Arbeitslosigkeit.

Wer hier mit der Analyse aufhört greift aber zu kurz. Erstens gibt es in unserer heutigen Wirtschaft mit ihrem sehr großen Dienstleistungssektor viele Arbeitsplätze, die wenig kapitalintensiv sind. Es wäre denkbar, dass Arbeitslose sich die notwendigen Produktionsmittel zumindest in diesen Bereichen einfach selbst besorgen, und das geschieht auch regelmäßig. Aber es reicht offenbar nicht aus.

Zweitens hilft eine Verteufelung der Besitzer der Produktionsmittel auch nicht weiter. Wenn sie keine zusätzlichen Arbeiter einstellen geschieht das ja in der Regel nicht aus Boshaftigkeit. Wenn ein Unternehmer die Möglichkeit hätte, durch Verdoppelung der Belegschaft die Produktion und den Absatz zu verdoppeln und so nach Berücksichtigung der Fixkosten und Economies of Scale den Gewinn mehr als zu verdoppeln, dann würde er das natürlich tun. Aber der Absatz lässt sich eben nicht unbedingt verdoppeln, und hier liegt der Hund begraben: Wenn die effektive Gesamtnachfrage zu gering ist, dann entsteht Arbeitslosigkeit.

Übrigens: wenn die Produktivität steigt - also die pro Arbeitsstunde produzierten Güter und Dienstleistungen - dann muss die effektive Gesamtnachfrage genauso schnell steigen, damit die Anzahl der Arbeitsplätze gleich bleiben kann.

Allerdings wächst die Gesamtnachfrage nicht immer mit dem "richtigen" Tempo. Mal wächst sie schneller (dann können Arbeitsplätze entstehen), und mal wächst sie langsamer oder geht sogar zurück. Das sind ganz normale zyklische Bewegungen, wie sie in komplexen dynamischen Systemen zwangsläufig auftreten, wenn nicht dagegen gesteuert wird.


Die anderen Theorien

Ich will nicht verschweigen, dass es noch eine andere Familie an Erklärungsansätzen für Arbeitslosigkeit gibt. In den Medien wird uns ständig implizit erzählt, es gebe Arbeitslosigkeit, weil die Arbeitslosen wahlweise zu dumm oder zu faul sind oder nicht die passenden Qualifikationen haben. Es wird niemanden überraschen, dass ich das für Unsinn halte, und zwar aus einer ganzen Reihe an Gründen.

Zum einen entstammen diese Theorien einer verengten, mikro-ökonomischen Weltsicht. In der Tat ist es so, dass ein einzelner Arbeitsloser, nennen wir ihn A, seine persönlichen Einstellungschancen verbessern kann, indem er an seinen Qualifikationen arbeitet. Wenn er sich, zusammen mit einem Dutzend anderen, auf eine neue Stelle bewirbt, und er leider nur die zweite Wahl war hinter B, dann hätte ihm die Fortbildung vielleicht dabei geholfen, an die erste Stelle zu rücken. Nur: in dem Fall wäre dann eben nicht mehr A, sondern B weiterhin arbeitslos. An der Gesamtzahl der Arbeitsplätze, und damit der Gesamtzahl der Arbeitslosen, ändert sich dadurch ja nichts. Massenarbeitslosigkeit ist ein makro-ökonomisches Phänomen, an dem der Einzelne nichts ändern kann. Die "Tale of 100 Dogs and 95 Bones" veranschaulicht dies sehr schön.[1]

Zum anderen stimmen diese Theorien nicht mit der beobachteten Realität überein. Die Arbeitslosenquote reagiert mit leichter Verzögerung tatsächlich auf Schwankungen in der Nachfrage. Wer glaubt, man könne dies dadurch erklären, dass die Menschen plötzlich dümmer und/oder fauler werden, oder von heute auf morgen nicht mehr die richtigen Qualifikationen haben wenn die Nachfrage sinkt, der leidet an einem klaren Realitätsdefizit. Eine veränderte Einstellung zur Arbeit kommt höchstens als Folge von langfristiger Arbeitslosigkeit in Frage, nicht aber als deren Ursache, wie ich hier argumentiert habe.

Ein weiterer Sargnagel für diese Theorien ist, dass sie in praktisch allen westlichen Ländern in den letzten 15 Jahren als Begründung zum Umbau der Arbeitsmärkte hergehalten haben. Aber ohne Erfolg: Massenarbeitslosigkeit gehört immer noch zu unserer gesellschaftlichen Realität. Dies steht in klarem Gegensatz zu den Nachfrage-orientierten Theorien, deren Anwendung nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen westlichen Ländern - auch solchen, die nicht durch den Krieg zerstört wurden - zu Arbeitslosenquoten unter 2% geführt haben.

Ich will dabei gar nicht behaupten, dass die mikro-ökonomischen Überlegungen vollkommen falsch sind. Sie helfen nur nicht dabei, die heutige Massenarbeitslosigkeit zu erklären.

Zum Beispiel beim Thema Qualifikationen. Es ist ja durchaus richtig, dass Verschiebungen in der Zusammensetzung der Wirtschaft auch eine Verschiebung der benötigten Qualifikationen bedeutet. Diese erreicht man aber nicht durch sinnlose Maßnahmen von Arbeitsagenturen, sondern nur, indem man den Menschen eine Weiterbildung in Verknüpfung mit einer echten Arbeit gibt.

Dies spricht für die Betonung der Rolle der Nachfrage. Wenn die Nachfrage nur hoch genug ist, dass Firmen einfach mehr qualifizierte Arbeitnehmer benötigen, dann werden sie die entsprechenden Bildungsmaßnahmen selbst in die Hand nehmen. Solange sich die Nachfrage nur schleppend entwickelt bleibt es bei Lippenbekenntnissen auf Sonntagsreden.

Es liegt auf der Hand: Steht die Wirtschaft ordentlich unter Dampf und läuft gut warm, dann ist sie anpassungsfähig. Solange die Nachfrage hoch ist fällt es leichter, neue Betriebe zu gründen, und das Geld ist da für Weiterbildungen - und genau dies sind die wichtigsten Mechanismen, über die sich die Wirtschaft an veränderte Gegebenheiten anpassen kann. Bleibt die Nachfrage aber aus und die Wirtschaft läuft eher schleppend und kühl, dann ist sie auch starr und kann nicht flexibel reagieren. Der Schmied schmiedet das Eisen ja auch dann, wenn es heiß ist.


Fußnoten

[1] Natürlich sind solche Veranschaulichungen nie zu 100% korrekt. Es gibt durchaus Fälle, in denen Firmen neue Arbeitsplätze speziell für "Superstars" schaffen, die sich bei ihnen bewerben. Allerdings ist das Budget für die Einstellung solcher "Superstars" auch immer begrenzt. Wenn von heute auf morgen alle Arbeitslosen zu hoch gebildeten 25-jährigen Intelligenzbestien mit 50 Jahren Berufserfahrung würden, würde sich an der Arbeitslosenquote trotzdem nichts wesentlich ändern.

Dienstag, September 13, 2011

Erbschaftssteuer und Machtverhältnisse

Seit langem erstaunt mich, dass wir als Gesellschaft zwar die Vererbung politischer Macht weitgehend überwunden haben, aber die Vererbung wirtschaftlicher Macht nicht hinterfragen. Gerade angesichts des Ideals, dass die eigene Position in der Gesellschaft primär durch die eigene Leistung begründet sein sollte, ist Erbschaft ein hoch problematisches Konzept. Ab einem gewissen Freibetrag sollte eine ziemlich hohe und progressive Erbschaftssteuer, also eine Erbschaftssteuer, bei der der Steuersatz mit wachsendem Erbe steigt, eigentlich selbstverständlich sein.

Natürlich kann man die Erbschaftssteuer nicht ganz isoliert betrachten. Ist sie zu hoch, wird sie womöglich durch Schenkungen vor dem Tod hintergangen. Trotzdem halte ich es für wichtig, dass einerseits der rein vererbten Finanzmacht ein Riegel vorgeschoben wird, und andererseits Firmen im Laufe der Generationen zum Gemeinschaftsbesitz werden.

Denn einerseits gibt es zwar positive Beispiele von Unternehmerfamilien, die über mehrere Generationen einen mittelständischen Betrieb sinnvoll weiterführen. Deshalb bin ich auch nicht für eine vollständige Enteignung im Erbfall. Andererseits muss auch die Tatsache anerkannt werden, dass eine erfolgreiche Firmengeschichte nicht im Vakuum entsteht, sondern durch das gesellschaftliche und regionale Umfeld erst ermöglicht wird.

Deswegen, so mein ursprünglicher Gedanke, sollte ein Großteil der Besitzrechte in öffentlich-rechtliche Stiftungen überführt werden, die politisch kontrolliert werden, z.B. gerade bei kleineren Betrieben durch kommunale Regierungen. Diese dienen, da sie von den Bürgern gewählt werden, als Mittler des politischen Willens bei der Verwaltung von Gemeinschaftsbesitz.

In einem Interview mit Sahra Wagenknecht habe ich nun eine weitere gute Idee dazu gelesen. Sie schlägt vor, den Besitz in eine Stiftung zu überführen, die von der Belegschaft selbst kontrolliert wird. Es gibt einiges, das dafür spricht. Zum einen ist die Belegschaft ein ganz zentraler Grund für den Erfolg eines Betriebs, weshalb es nur logisch ist, ihr über diesen Mechanismus einen noch konkreteren Einfluss zu geben. Andererseits ist damit garantiert, dass der Einfluss fachfremder Außenseiter auf die Firmenpolitik nicht zu groß werden kann. Das so typische Phänomen des generischen Managers, der von der konkreten Tätigkeit des Betriebs keine Ahnung hat und deshalb dumme Entscheidungen trifft, kann also vermieden werden. Das führt langfristig nicht nur zu gerechterem, sondern auch zu effizienterem Wirtschaften.

Es gibt natürlich trotzdem noch Gründe, die für die erste, politikgebundene Variante sprechen, und ich bin mir nicht sicher, welche davon nun wirklich die Bessere ist. Vielleicht ist ja auch eine Mischung denkbar. Sicher bin ich mir aber darin, dass beides besser ist als der Status Quo. Ein graduelles Verschieben der Machtverhältnisse über eine hohe Erbschaftssteuer erscheint mir der beste Weg zu einer effizienteren und menschlicheren Wirtschaftsform.

Sonntag, September 11, 2011

Remember, remember...

... the eleventh of September:

Am 11. September 1973 putschte das Militär in Chile. Der drei Jahre zuvor demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben, nachdem die Luftwaffe begonnen hatte, den Präsidentenpalast La Moneda zu bombardieren. Eine Militärjunta unter der Führung von Augusto Pinochet regierte Chile daraufhin bis zum 11. März 1990 als Diktatur. Der Putsch wurde von den USA politisch und finanziell unterstützt und war ein zentrales Ereignis im Kalten Krieg, mit ähnlich symbolhafter Bedeutung wie die Revolution in Kuba.

Ist es die Ironie des Schicksals, dass die Daten so schön zusammenpassen? Oder haben die Vereinigten Staaten in ihrer Geschichte einfach so viel Terrorismus in anderen Ländern unterstützt, dass es sich um keinen großen Zufall handelt?

Mein Mitleid gilt nicht nur dem chilenischen, sondern auch dem US-ischen Volk. Beiden wurde an einem 11. September großes Unrecht angetan.

Aber bei aller Ausgeglichenheit auf Ebene der Opfer fällt es mir doch schwer, die entsprechende Ausgeglichenheit auch auf Ebene der Täter zu finden. Denn wer stark ist hat automatisch eine größere moralische Pflicht, seine Stärke nicht zu missbrauchen.

Samstag, September 10, 2011

Lang lebe die Seilschaft

Nun verlässt also der zweite Deutsche die EZB, weil seine Ideologie mit der Realität nicht mehr kompatibel ist. Im Grunde würde ich dem keine Träne nachweinen, würde es nicht so aussehen, als würde Jörg Asmussen ihn ersetzen. Ja, der Asmussen von der neoliberalen Asmussen-Weidmann-Weber Seilschaft. Das hätte nun wirklich nicht sein müssen.

Aber wenden wir uns den Inhalten zu. Der große Streit geht um die Tatsache, dass die EZB Anleihen einiger Euro-Mitgliedsstaaten kauft. Folglich steigt der Preis dieser Papiere, und ihre Rendite sinkt. Dadurch gelingt es einerseits den jetzigen Inhabern dieser Anleihen diese zu verkaufen, umgangssprachlich: los zu werden. Andererseits wird es den Staaten ermöglicht, neue Anleihen zu niedrigeren Zinssätzen auszugeben (der Zins, den die Staaten auf bereits ausgegebene Anleihen bezahlen, ändert sich natürlich nicht).

Rein pragmatisch gesehen ist das vermutlich notwendig, weil die betroffenen Staaten sonst durch einen Teufelskreis in den Bankrott getrieben würden, auch wenn sie ansonsten eigentlich solide dastehen würden. Hohe Renditen von Anleihen werden als Anzeichen interpretiert, dass diese Anleihen ein höheres Ausfallrisiko besitzen. Das verleitet Anleger dazu, diese Anleihen zu verkaufen (und sich von dem erlösten Geld Anleihen eines anderen Staats zu kaufen - dass die Rendite deutscher Anleihen seit Beginn der Finanzkrise im Schnitt deutlich gesunken ist hat mit unserer Wirtschaftspolitik herzlich wenig zu tun). Dadurch sinkt der Preis der Anleihen, was einem Anstieg der Rendite entspricht. Und damit erneuert sich der Kreislauf. Ein Herdentrieb, dem die EZB entgegenwirken kann, indem sie Anleihen der betroffenen Staaten kauft.

Menschen wie Axel Weber und Jürgen Stark (die beiden EZB-Deserteure) vertreten aber nun implizit eine Ideologie, laut der die Regierungen dem Diktat der Finanzmärkte unterworfen werden müssten, weil sie sonst durch ausufernde Staatsdefizite die Inflation beschleunigen würden. Da ihre Ideologie außerdem eine Begrenzung der Inflation über alles stellt - im Gegensatz zum Magischen Viereck einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik - gehen ihnen die Anleihekäufe gegen den Strich.

In der Tat ist die EZB für solche Aktionen denkbar ungeeignet. Es muss das Prinzip gelten, dass eine größere Regierungseinheit einspringt, wenn eine kleinere Einheit strauchelt. So ist es selbstverständlich, dass das Land eingreift, wenn eine seiner Kommunen in Finanzschwierigkeiten gerät. Der Haushalt der Kommune wird dann streng kontrolliert, aber die Kommune wird nicht den Haien zum Fraß vorgeworfen. Stattdessen greift das Land fördernd ein - auch mit zusätzlichen Ausgaben - um die Kommune wieder auf die Beine zu stellen. Genau dies muss nun auf europäischer Ebene geschehen.

Allerdings ist das ein höchst politischer Akt. Die Form des Eingriffs muss politisch entschieden werden, und die politische Entscheidung bedarf einer soliden demokratischen Legitimation. Der Ministerrat oder die in den Medien ausdiskutierten mehr oder weniger automatischen Mechanismen können dies nicht leisten, und die EZB schon gar nicht.

Die beste Lösung wäre, das Europäische Parlament zum monetären Souverän der Eurozone im Sinne der Modern Monetary Theory zu küren. Es ist hinreichend legitimiert, um mit einem eigenen Budget die notwendigen demokratischen Entscheidungen für Konjunkturpakete zu treffen. Diese Einsicht wird den Politikern auf nationaler Ebene leider schwer fallen, und so muss sich die EZB mit der Realität abfinden, bis diese oder eine vergleichbare Lösung implementiert ist, und weiter Feuerwehr spielen.