Mittwoch, Juli 17, 2013

Die Sache mit den Zinsen

Er war ein intelligenter Mensch, durchaus auch mit Verständnis für Mathematik. In leicht verschwörerischem Ton erzählte er mir, wie er vor einiger Zeit verstanden hat, was Banken überhaupt tun, und welche Konsequenzen das für unsere Wirtschaft hat. Ich habe in mich hinein gelächelt und gehofft, etwas über Kreditvergabe und die Entstehung und Vernichtung von Geld zu hören.

Leider wurde ich enttäuscht.

Stell dir ein vereinfachtes Modell vor, sagte er, mit dir und der Bank. Die Bank leiht dir 100#; dadurch entsteht das Geld erst (das ist korrekt, und auch seine korrekten Ausführungen zur Zentralbank lasse ich hier der Einfachheit halber weg). Es gibt also die 100# Geld und den Kredit. Am Ende musst du aber, wegen der Zinsen, 105# zurück zahlen. So viel Geld gibt es aber gar nicht! Du kannst dir die 5# natürlich auch von der Bank leihen, aber dann leihst du dir im Laufe der Zeit immer mehr von der Bank, und die Not, das Geld zurück zu zahlen, zwingt zu Wachstum. Deswegen, so seine Zusammenfassung, zwinge der Zins zu Wachstum.

Es gibt viele Menschen, die wie er denken. Seine Geschichte hört sich zunächst ja auch äußerst plausibel an. Aber wie so oft in der Ökonomie verbirgt sie einen Denkfehler dadurch, dass nicht der gesamte Geldkreislauf berücksichtigt wird. Um das gesamte Bild zu sehen, müssen wir das Modell etwas erweitern.

Zunächst hilft es, sich zu überlegen, dass niemand einen Kredit aufnehmen würde, wenn es nur eine Bank und eine einzige weitere Person gäbe. Kredite werden aufgenommen, um zu handeln. In unserem ersten Anlauf für ein seriöseres Modell gibt es deshalb den Kapitalisten K, die Bank und die (in eine einzige Person zusammengefassten) Arbeiter A.

Der Kapitalist ist Fabrikbesitzer und nimmt einen Kredit über 100# auf, um den Monatslohn der Arbeiter zu bezahlen. Diese geben ihren Lohn wiederum im Laufe eines Monats aus, um die von ihnen produzierten Dinge dem Kapitalisten ab zu kaufen. (Intelligente Kapitalismuskritik setzt an diesem Punkt an, aber das ist eine andere Geschichte.)

Am Ende des Monats muss K seinen Kredit bedienen. Dazu gehört, dass er die Zinsen darauf bezahlen muss. Da K aber sowieso einen neuen Kredit für den Lohn des nächsten Monats aufnehmen würde, steigt nur die Höhe des Kredits, ohne dass eine Zahlung geschieht. Das folgende Diagramm zeigt die Kontostände und die Höhe des Kredits im Verlauf der Zeit:
In der Grafik sieht man, wie die Arbeiter A zu Beginn der Periode ihren Lohn ausbezahlt bekommen, und wie er im Verlauf einer Periode zurück zum Kapitalisten K fließt. Der Kredit scheint im Laufe der Zeit unbegrenzt zu wachsen. Auch die vermutete Lücke zwischen den Kontoständen und der Kredithöhe ist zu sehen. In Wirklichkeit ist die Grafik aber schlicht falsch.

Das liegt daran, dass im Modell der Banker B fehlt. Denn der Banker B hat am Ende der ersten Periode bereits einen Zinsgewinn von 5# gemacht. Dieses Geld hat er nun auf seinem eigenen, privaten Konto, und er wird es im Verlauf der Zeit ausgeben, indem er beim Kapitalisten einkaufen geht. In Wirklichkeit sieht das Bild also so aus:
Wir sehen sofort, dass zu jedem Zeitpunkt die Summe der Kontostände gleich der Höhe des Kredits ist. Im Gegensatz zum Bild davor haben wir dieses Mal keinen Buchhaltungsfehler gemacht. Wir sehen auch sofort, dass der Kredit zwar noch ein wenig wächst, aber er wächst nicht mehr ins Unermessliche.

Um genau zu sein wächst der Kredit tatsächlich immer noch in jeder Periode wegen des Zinses. Das Wachstum ist aber durch eine geometrische Reihe beschränkt. Wenn unser Beispiel in alle Ewigkeit weiter laufen würde, würde der Kredit immer kleiner als 105,27# bleiben. Man kann das leicht nachrechnen, wie ich im Anhang an diesen Beitrag zeigen werde.

Fazit: Der Protagonist aus dem Anfang dieses Beitrags kann nicht Recht gehabt haben, weil insgesamt betrachtet genug Geld vorhanden ist, so dass die Kredite trotz Zinsen beschränkt bleiben.

Es ist zwar fraglich, ob der Banker die ca. 5,26#, die er langfristig zu Beginn jeder Periode erhält, in irgendeinem moralischen oder ethischen Sinne "verdient" hat. Schließlich kommt er in den Genuss der von den Arbeitern produzierten Dinge, obwohl er nichts "reales" geleistet, sondern nur irgendwelche Bücher geführt hat. Aber diese Verteilungsfrage ist eine andere Geschichte.

Nun mag jemand einwenden, dass die Realität nicht so sauber ist wie unser kleines Modell. Der Kapitalist K erhält zwar langfristig genügend Geld, aber vielleicht nicht zur richtigen Zeit. Tatsächlich ist es kaum denkbar, dass alle Kredite gleichzeitig vollständig getilgt werden. Aber erstens will das sowieso niemand, und zweitens ist das kein Problem des Zinses, sondern ein Problem der Verteilung des Geldes.

Selbst wenn es in unserem Modell keinen Zins gäbe könnte der Kapitalist am Ende einer Periode seinen Kredit nicht tilgen, wenn die Arbeiter ihren Lohn nicht wieder ausgeben. Sobald die Arbeiter zu sparen beginnen, fehlt dem Kapitalisten am Ende der Periode Geld. Dann muss er entweder einen höheren Kredit aufnehmen, oder er muss Arbeiter entlassen, damit er zu Beginn der nächsten Periode nicht so viel Lohn bezahlen muss.

Was als Problem des Zinses wahrgenommen wird ist also in Wirklichkeit ein Problem der ungleichen Verteilung und des Sparens. Damit will ich übrigens das Sparen nicht pauschal verteufeln. Die Realität des Sparens ist subtil, aber das ist eine andere Geschichte.

Und woher kommt nun der "Wachstumszwang"? Ich persönlich glaube nicht daran, dass es einen Wachstumszwang gibt. Die (unangenehme?) Wahrheit ist, dass es viele Menschen gibt, die (zumindest abseits von Sonntagsreden und Stammtischgeschwätz) Wachstum wollen -- teils aus Profitgier, teils weil sie das Wachstumsmantra unreflektiert nachplappern, teils weil sie der Überzeugung sind, dass wir unseren Lebensstandard mit Wachstum weiter verbessern könnten. Mit Zinsen hat das alles nichts zu tun.


Anhang: Die korrekte Modellrechnung

Wir gehen davon aus, dass der Kapitalist K am Anfang jeder Periode 100# an die Arbeiter A auszahlen will. Dazu nimmt er von der Bank einen Kredit auf. Im Laufe einer Periode zahlen die Arbeiter ihren gesamten Lohn zurück an K, und auch der Banker B gibt all sein Geld aus. Am Ende der Periode zahlt K seinen Kredit samt Zinsen zurück, nimmt aber direkt einen neuen Kredit auf, um den Teil der Zinsen, den er nicht bezahlen kann, zu decken. Alle Zinsen gehen an den Banker.

Die Höhe des Kredits C ist am Anfang 0. Am Anfang der ersten Periode sind die Kontostände und die Kredithöhe C:
K_1 = 100, B_1 = 0, C_1 = 100
Ich lasse die Kontostände der Arbeiter weg, da sie immer nur zwischen 0 und 100 oszillieren. Am Ende der ersten Periode sind die Kontostände und die Kredithöhe:
K'_1 = 100, B'_1 = 0, C'_1 = 100
Der Kapitalist bezahlt nun den Kredit zurück unter Berücksichtigung der Zinsen:
K''_1 = 0, B'_1 = 5, C''_1 = 5
Zu Beginn der zweiten Periode wird der Kredit um 100# erhöhte, um den Lohn der Arbeiter zu stellen:
K_2 = 100, B_2 = 5, C_2 = 105
K'_2 = 105, B'_2 = 0, C'_2 = 105
K''_2 = 0, B''_2 = 5,25, C''_2 = 5,25
K_3 = 100, B_3 = 5,25, C_3 = 105,25
K'_3 = 105,25, B'_3 = 0, C'_3 = 105,25
Wir sehen also, dass der Kontostand des Kapitalisten am Ende jeder Periode genau ausreicht, um den Kredit ohne Zinsen zu bezahlen. Deswegen steigen die Zinsen im Laufe der Zeit gemäß einer geometrischen Reihe:
5, 5 + 5*0,05, 5 + 5*0,05 + 5*0,05^2, ...
Der Grenzwert dieser geometrischen Reihe ist 5 / 0,95 = 5,263.... Die an den Banker pro Periode zu zahlenden Zinsen bleiben also immer kleiner als 5,27#.

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